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Blut – Der Fluss des Lebens

 

Nominiert für das beste Sachbuch des Jahres 2024

Nach dem Takt des Lebens ist dies mein zweites Buch mit Priv. Doz. Dr. Reinhard Friedl, Herzchirurg, Schiffsarzt. Philosoph. Es hat meine Sicht auf die Medizin verändert – und es war mir abermals eine große Freude, mit diesem Herzensdoc zusammenzuarbeiten!

 

 

Blutbad

Es gibt Anblicke, die lassen selbst einem hartgesottenen Herzchirurgen das Blut in den Adern gerinnen: Dicht unterhalb der linken Brustwarze meines Patienten stak das helle Griffstück eines Fischmessers. Vermutlich eine Imitation von Perlmutt und in etwa sieben Zentimeter lang. Die Klinge war tief im Körper des Patienten Richtung Herz verschwunden. So weit war der Anblick für eine Messerstichverletzung noch erträglich. Auch der hellblaue Pullover, mittlerweile schwarz gefärbt und steif von geronnenem Blut, schockte mich nicht. Blut in allen Gerinnungsfaktoren ist sozusagen mein tägliches Brot. Es war das lautlose Tick-Tick, Tick-Tick, Tick-Tick, mit dem der Messergriff den Herzschlag im Inneren des Leibes außen sichtbar machte, das mir durch Mark und Bein ging. Kein Vibrieren oder Zittern, sondern eine feine und doch klar abgesetzte Bewegung. Als ob das Pendel einer Lebensuhr, das sonst unsichtbar in diesem Patienten schlug, plötzlich sichtbar würde. Ich schätzte die Herzfrequenz auf 120, und dass ich sie erfassen konnte, ohne den Puls des Patienten zu fühlen, ohne EKG, ohne dass ich den Brustkorb eröffnet hatte, ließ mich schaudern. Es kam mir vor, als sende mir dieses schwerstverletzte Herz geheime Morsezeichen, als funke es: Ich habe nicht mehr viel Zeit, mein Herzblut verlässt mich.

Kurz nach Mitternacht hatte mein Telefon geklingelt. An der Nummer hatte ich die Zentrale der Klinik erkannt.

O nein, dachte ich spontan, bitte nicht jetzt! Als Herzchirurg hatte ich dieses Wochenende an unserem Klinikum Dienst und schon in der letzten Nacht operiert. Ich hatte heute auf eine

Ein Kollege informierte mich: „Wir kriegen eine Messerstichverletzung rein. Laut Notarzt steckt das Messer noch im Brustkorb. Sie kommen bodengebunden mit dem Notarztwagen von irgendwo aus der Pampa. Zu viel Nebel zum Fliegen heute. Der Patient ist im schweren hämorrhagischem Schock, der Notarzt hofft, dass sie es zu uns schaffen!“

„Bin unterwegs“, sagte ich. „Falls der Patient lebend ankommt, bitte bringt ihn sofort in den Herz-OP.“

Etwa zeitgleich mit dem Patienten traf ich in der Klinik ein. Der junge, dunkelhaarige Mann war noch bei Bewusstsein. Während er auf den OP-Tisch gehoben wurde, redete er ohne Unterlass: „Es tut mir so leid, es tut mir so leid, es tut mir so leid“, wiederholte er ein ums andere Mal. Was meinte er damit? Was tat ihm leid? Gab es ein zweites Opfer? Wo? Tot? Viele Fragen, keine Antworten. Er redete, als ginge es um etwas sehr Wichtiges. Und damit hatte er recht. Er redete um sein Leben, das mit jedem Blutstropfen aus ihm heraussickerte, oder auch strömte, wieviel es war, wusste ich im Augenblick noch nicht.

Sein Gesicht war leichenblass, sein Körper weiß marmoriert wie eine Statue. Die Lippen blau, der ganze Mann, den ich auf Mitte zwanzig schätzte, schweißgebadet. Er klapperte entsetzlich mit den Zähnen, und immer wieder schüttelte ihn kalter Schauer. Blut transportiert nicht nur Sauerstoff, sondern verteilt auch die Lebenswärme. Zusammen mit dem Blut verließ sie seinen Körper, der erste Schritt einer tödlichen Abwärtsspirale. Ist die Körpertemperatur zu niedrig, beginnt die Muskulatur mit Wärmeproduktion durch ein unkontrollierbares Muskelzittern. Gut informierte Selbstmörder setzen sich deshalb in die warme Badewanne, bevor sie sich die Pulsadern aufschneiden. Ein Selbstmord durch einen Messerstich ins eigene Herz ist eher die Ausnahme, das bringen auch die verzweifeltsten Menschen dann doch nicht fertig.

Keine Frage, dieser Patient hatte großes Glück gehabt, es bis zu uns in die Klinik geschafft zu haben. Doch wie lange würde sein Glück noch währen? Wie viel Blut floss noch in seinen Adern? Zwischen vier und sechs Liter sind es normalerweise in einem erwachsenen menschlichen Körper. Wenn wir die Hälfte davon verlieren, befinden wir uns, je nach Konstitution und Umständen, in Todesnähe, oft schon vorher.

Das Leben dieses Patienten floss nur noch als kümmerliches Rinnsal. Noch schlug das Herz in rasendem Tempo, nochatmete er, flach und hastig. Und er redete ohne Unterlass, als verhandle er mit dem Tod. In der Klinik in den USA, wo ich einen Teil meines Studiums verbracht hatte, wurden Schwerstverletzte wie er als „talk and die“ bezeichnet, die reden, bis sie sterben. Ein Arzt darf sich davon nicht täuschen lassen. Dieses Reden ist keineswegs ein gutes Zeichen, im Sinne von „nicht so schlimm, er redet ja noch.“ Für Trauma-Spezialisten und Notärzte, die dieses Zeichen zu deuten wissen, ist es ein Warnsignal für den unmittelbar bevorstehenden Absturz der Körpersysteme. Im Stadium des fortgeschrittenen Schocks spüren Verblutende, meistens Opfer von schweren Unfällen und Gewaltverbrechen, dass das Leben aus ihnen weicht. Jeder Tropfen des Schockhormons Adrenalin, den sie noch irgendwo zur Verfügung haben, wird ausgeschüttet. Seine Aufgabe ist es, mit dem noch vorhandenen Blutrest bis zuletzt einen minimalen zentralen Notkreislauf für Herz und Gehirn aufrechtzuerhalten, auf Kosten der Durchblutung aller anderen Organe. Adrenalin sorgt dafür, dass deren Blutzufuhr durch Engstellung der Blutgefäße minimiert wird. Im Extremfall werden sie gar nicht mehr durchblutet und stellen in der Folge sukzessive ihre Funktion ein. Unser größtes Organ, die Haut trifft es zuerst: sie erkaltet und wird weiß wie Schnee, der Schweiß zu Eiswasser. Der Notkreislauf ins Gehirn sorgt dafür, dass wir bis zum Ende denken können. Solange wir bewusst sind, haben wir noch einen Rest Autonomie, den Glauben an unsere Handlungsfähigkeit. Verblutende reden einem inneren Antrieb folgend immer weiter, denn solange sie reden, haben sie nicht aufgegeben. Ihre Lippen formen flüsternd Worte, sie hören Ihre Stimme, und das gibt ihnen die Gewissheit, nicht tot zu sein, oft gehört ein Noch dazu, noch nicht tot.

Auf einmal schaute mich der Patient mit weit geöffneten Augen an. „Werde ich sterben?“, fragte er.

 „Wir tun alles, was wir können.“

„Ich heiße Hamid.“

„Ich bin Dr. Friedl“, sagte ich.

Er nickte schwach und suchte meine Hand. Ich hielt seine eiskalte schweißnasse Hand für einen Moment, drückte sie sachte. „Wir schaffen das.“

Und das meinte ich auch so. Denn wenn man glaubt, es sei sinnlos und zu spät, sollte man auch nicht mehr operieren. In traumatischen Notfallsituationen, wenn der Fluss des Lebens versiegen will, ist Ehrlichkeit Menschlichkeit. Man kann einem Menschen in seiner letzten Minute auch die Hand halten und bei ihm sein, anstatt im blinden Aktionismus vor einer solchen Anteilnahme wegzulaufen.

Die Anästhesistin spritzte Narkosemittel und wechselte die Sauerstoffmaske auf dem leichenblassen Gesicht gegen eine Beatmungsmaske. Mir zur Seite stand ein überaus erfahrenes Notfallteam Team, das den Patienten bisher »geschaukelt« hatte, wie wir im OP-Jargon sagen. Das Anästhesie-Team hatte Organfunktionen und Vitalparameter halbwegs stabil gehalten. Den Kommandostand der Anästhesistin am Kopfende des Patienten säumten Kabel und Monitore und das Beatmungsgerät mit seinen Schläuchen und Digitalanzeigen. Auf einer Ablage lag eine ganze Batterie von kleinen Spritzen. Von Zeit zu Zeit griff sie sich eine und applizierte vorsichtig einen halben Milliliter dieser und jener Substanz. Anästhesisten können, wie Zauberer einen Patienten schlafen lassen, den Schmerz nehmen, das Herz ein bisschen schneller schlagen lassen, oder auch langsamer, den Druck ein bisschen heben oder senken und auch etwas mehr Urin fließen lassen. Doch was dieser Patient jetzt vor allem brauchte, war Blut, viel Blut, denn er war dabei, vor unseren Augen zu verbluten.

Bodycheck

Blut ist Leben, sagt man. Doch das stimmt nicht ganz. Wenn es unwiederbringlich aus uns herausfließt, ist es auch Tod. Um das zu verhindern, hingen über Hamid zahlreiche rote Beutel mit Blutkonserven, die mit Hilfe eines elektrischen Druckinfusionssystems in den Patienten gepumpt wurden.

Da wir die benötigte Blutgruppe noch nicht kannten, waren Konserven mit Null Rhesus negativ, die wir für Trauma-Opfer vorrätig hatten, aus dem Blutkühlschrank geholt und gewärmt worden. Blutgruppe Null Rhesus negativ als Universalspenderblut geht zur Not immer. Es ist aber selten und entsprechend wertvoll. Gerade mal sieben Prozent der Weltbevölkerung besitzen diese Blutgruppe. Deshalb wird jedem Patienten bevorzugt seine tatsächliche Blutgruppe transfundiert, und die wird in der Blutbank bestimmt. „Die Röhrchen für die Kreuzprobe sind unterwegs“, teilte uns die Anästhesiepflegerin mit. Sie hatte die Blutzentrale angesichts der absoluten Dringlichkeit bereits benachrichtigt.

„Wo ist der andere?“, fragte der Kardiotechniker, der vorsorglich die Herz-Lungen-Maschine einsatzbereit machte.

Keiner antwortete.

„Hat er sich denn nicht gewehrt?“, fragte die OP-Schwester, die, wie die meisten anderen, wohl davon ausging, dass unser Patient das Opfer war. Er hätte aber auch Angreifer sein können.

„Keine weiteren Verletzungen nach dem Bodycheck“, meldete die Anästhesistin.

Bei einem Trauma Patienten interessiert nicht nur das Offensichtliche, sondern auch das, was man auf Anhieb nicht sieht. Es könnte zusätzlich ein Bein gebrochen sein oder es könnte Hämatome am Bauch geben, die auf eine stumpfe Gewalteinwirkung schließen lassen. Hamid zeigte keine weiteren Begleitverletzungen, die auf einen Kampf hindeuteten, zum Beispiel Abwehrverletzungen an den Händen oder Prellmarken am Körper. Das war seltsam und ist eher typisch für Messerstichverletzte, die aus dem Hinterhalt in den Rücken attackiert werden. Nun war unser Patient offensichtlich von vorne verletzt worden, und diese Opfer wehren sich meistens. Was war hier geschehen?

Blutspur

Unser aller Leben beginnt im Blut. Ohne dass Blut fließt, werden wir nicht geboren und sind Frauen nicht fruchtbar. Als Organ bezeichnen wir einen aus verschiedenen Geweben zusammengesetzten Teil des Körpers, der eine eigene und abgegrenzte Funktionseinheit bildet. Ein Organ ist wie die Pfeife an einer Kirchenorgel, die von Luft durchströmt werden muss, damit sie klingt. Alle Orgelpfeifen zusammen machen die Musik des Lebens. Blut hat die Besonderheit, dass es als flüssiges Organ alle anderen Organen durchströmt und sie verbindet. Ohne dass Blut in uns fließt, hätten wir keinen Kreislauf, keinen Blutdruck und keinen tastbaren Puls. Und schon gar keine Blutwerte. Und natürlich transportiert Blut den lebensnotwendigen Sauerstoff.

Kaum ein Arztbesuch ohne Blutabnahme. Ein Arztgespräch dauert im Durchschnitt 7 Minuten. Den Rest erzählt das Blut. 60 Prozent aller Diagnosen werden anhand von Blutwerten gestellt. Es wird von der modernen Medizin lückenlos überwacht. Noch nicht richtig auf der Welt wird für das Neugeborenen-Screening schon Blut abgezapft, und der Pieks wiederholt sich viele Male im Leben. Fast keine Erkrankung kann sich in ihm verstecken. Jedes Organ, jede noch so kleine Zelle gibt Information an das Blut ab und berichtet, wie es ihm geht. Ob Sie einen Infekt haben, eine seltene genetische Erkrankung, einen Herzinfarkt oder ein Nierenproblem, ob Sie sich bester Gesundheit erfreuen oder Ihre Zellen Stress haben, Ihr Blut weiß es, und oft lange bevor Sie es selbst spüren. Es hilft uns Ärzten, Verdachtsdiagnosen zu stellen, zu bestätigten, weiter einzugrenzen oder zu verwerfen, Erfolg oder Misserfolg einer Therapie zu überwachen.

Dass im Blut Information ist, erkennen wir auch in unserer Hautfarbe. Eines der am besten durchbluteten Organe ist unsere Haut. Sie nimmt bereitwillig die Farbe des Blutes an und signalisiert, wie es um unsere Gesundheit, aber auch um unser Gemüt steht. Und da gibt es subtile Unterscheidungen: haben Kinder rote Backen, dann sehen sie nicht nur gesund aus, sondern sind es meisten auch. Blaue Flecken und Hämatome verraten, ob wir uns gestoßen haben oder vielleicht sogar misshandelt wurden. Ein hochroter Kopf kann auf einen erhöhten Blutdruck hinweisen, Leichenblässe auf das Gegenteil. Erröten wir hingegen zart, mag das liebreizend erscheinen, schießt uns die Röte ins Gesicht, sieht jeder, dass wir gerade aufgeregt sind, vielleicht sogar erregt, uns freuen oder auch schämen. Oder gar lügen? Aus all diesen Gründen waren Menschen schon immer der Ansicht, dass sich im Blut die Wahrheit verberge, dass unser Blut nicht lüge.

Es ist der flüssige, superschnelle Highway des Immunsystems, und wenn wir verletzt werden, verändert es seine Form von flüssig zu fest und versucht, unsere Wunden zu verschließen. Seine roten Blutkörperchen transportieren den Sauerstoff, ohne den unser Herz nicht schlagen und unser Gehirn nicht denken würde. Blutplättchen und Eiweiße der Blutgerinnung sorgen dafür, dass wir nicht sofort verbluten. Weiße Blutkörperchen verteidigen uns gegen todbringende Krankheitserreger. Und wenn mehr Blut fließt als bei einer kleinen Alltagsverletzung, blutet meistens auch die Seele. Dann bleibt eine tiefe Narbe und manchmal heilen solche Verletzungen nie.

Die Dreiecksverbindungen von Blut, Bewusstsein und Seele  drücken wir mit vielerlei Redewendungen aus. Die Seele blutet uns oder das Herz. Wenn etwas geschieht, das uns schmerzt und finden wir an etwas Gefallen, so lecken wir Blut. Wir sprechen von Herzblut, das wir in ein geliebtes Projekt stecken und fühlen uns ausgeblutet, wenn wir erschöpft sind. Vielleicht haben Sie auch eine besondere Ader an sich entdeckt, ein Talent fürs Kochen, Tanzen oder Motoren reparieren? Manchmal im Leben scheitern wir auch, dann holen wir uns eine blutige Nase.

Nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich blasse Menschen werden als blutarm bezeichnet, langweilige Texte auch, und wer viel Energie hat, dem wird heißes Blut zugeschrieben, das durchaus auch mal kochen kann, weshalb ihm „ruhig Blut“ geraten wird. Wenn wir bis aufs Blut geärgert werden, weil es dicker als Wasser ist, kann es in Wallung geraten oder einem stocken. Aber egal in welchem Zustand, eines ist sicher: Es kommt immer aus dem Herzen. Genauso, wie das Wasser aus der Quelle. Wie wir noch sehen werden, bilden Blut und Herz entwicklungsgeschichtlich ein Organ und funktionell eine untrennbare Einheit: Blut ist deshalb immer auch Herzblut. Es ist die Liebe und Hingabe, die wir in eine Tätigkeit stecken, es ist die Kraft, die uns weitermachen lässt, auch wenn es schwierig wird. Seine Magie lässt niemanden kalt. Auch als Herzchirurg kann ich das Herz nicht ohne Blut betrachten. Ich kann die Verbindung nicht trennen, wie bei einer Operation mit Herz-Lungen-Maschine. Das Herz ist die Quelle des Blutes, ohne Quelle kein Fluss.

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Der Herzchirurg im Hundekorb

Leute, mir wird’s allmählich zu eng. Meine Artgenossen kriegen Knochen ins Körbchen und ich? Einen Herzchirurgen. Zumal ich ja sowieso weiß, was im Buch steht, habe ich es doch als Muse mit meinem Herzblut begleitet. Immerhin, wenn mir jetzt das Herz stillstehen würde, Dr. Ehsan Natour, also einer von den vielen hier neben mir, wird es schon wieder zum Schlagen bringen und hoffentlich auch das seiner zahlreichen Leser. Also befreit mich davon, damit ich mich wieder bequem ausstrecken kann!!!

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