Fass!

Mona lag im Bett, als sie ein komisches Geräusch hörte. Trotzdem blieb sie noch einen Moment liegen. Und hoffte. Vielleicht war es ja nur die Zeitung, die neben den Schuhen knüllte. Zum Schuheausstopfen hatte sie die gebraucht. Das ganze Wochenende ein Wetter, bei dem nicht mal Hunde raus wollten. Bis auf eine Ausnahme: Luna.

Seufzend, aber schwungvoll stand Mona auf. Genauso schnell tappte die Labradorin die Treppen hoch und erwartete Mona am Aufgang zur Galerie. Vor Freude außer sich. Bloß weil Mona aufgestanden war. Über Nacht war Luna wieder ein paar Zentimeter gewachsen. Mona versuchte, am Gebaren der Hündin etwas abzulesen. Doch Luna benahm sich wie immer. Sprang hoch, jaulte und wedelte mit dem Schwanz, als müsste sie die ganze Stadt mit Strom versorgen. Mona hielt das Morgenritual kurz, ging die Treppe runter und um die Ecke – und dann sah sie es. Neben der Heizung stand ihre Aktenmappe. Sie hatte vergessen, sie wegzuräumen. Und sie war offen. Das hatte sie insgeheim befürchtet. Die zerfleischte Präsentation war allerdings nicht real. Keine Spur von Fetzen ihrer Wochenendarbeit. Mit einem schnellen Griff kontrollierte Mona den Inhalt der Aktenmappe. Das Adressbuch! Auf den ersten Blick konnte man sich täuschen, doch es lag seltsam verdreht und in sich zusammengesunken obenauf. Mona nahm es zur Hand. Es war fast dreieckig. Dreieckig gestutzt, geknabbert. Mona schlug es auf. Ein dünnes Rinnsal Blut lief aus einem Winkel. Luna hatte ordentliche Arbeit geleistet. Bei A begonnen. Auf den ersten Blick sah es tatsächlich aus, als fehlten nur die Seiten mit A. Mona schimpfte. Luna verkroch sich in ihrem Korb. Dort fand Mona Fetzen von A. Sie sammelte sie ein. Ein paar Ziffern ohne Namen. Zu A gehörte Anatol, das war bedauerlich, A wie Amanda sogar eine Katastrophe, weil die ja nach Indien ausgewandert war, A wie Arthur und Anne und Annette. A wie … Mona fiel nichts mehr ein. Sie schloss die Augen. Sah die Seiten vor sich. A wie Armin. Armin zum Beispiel. Hatte sie fast vergessen. Der war ihr nicht auf Anhieb eingefallen. Dabei hätte sie Armin gestern noch als einen ihrer besten Freunde bezeichnet. Merkwürdig. Über Nacht vergessen. Es lag bestimmt daran, dass sie seine Telefonnummer gespeichert hatte? Wie lange war es eigentlich her, dass sie nach einem Treffen mit Armin ein wohliges Gefühl mit nach Hause genommen hatte. Bestimmt war A kein unersetzlicher Buchstabe. A sollte nicht beispielhaft gelten. A war ein dummer Zufall. B hätte ein Desaster bedeutet. Wer stand noch mal unter B … nein, B war ein schlechtes Beispiel. B war ja auch als Buchstabe nicht ernst zu nehmen. Ziemlich weit vorne, aber doch im Schatten des ewig Ersten, nein, es gab viel zu viele Leute, die hießen Bauer oder Berger oder Beate, mindestens drei Beate kannte Mona, da war sie sicher, auch wenn ihr im Moment keine einzige einfiel. S wäre ein Unglück gewesen! Nachdenklich ging Mona ins Bad. Sie wusste, dass sie fünf volle Seiten S im Adressbuch hatte. Sie bekam nicht mal eine zusammen. Am besten, sie legte ein neues Verzeichnis an. Vielleicht gleich digital, in ihr Smartphone. Dann grinste auch niemand mehr, wenn sie blätterte statt wischte. Das ist nicht die Lösung, hörte sie ihre innere Stimme. Aber um diese frühe Zeit wollte sie keine Sprechstunde abhalten. Man musste doch nicht immer aus allem ein Problem machen. Sie war über Vierzig, und da hatte sich im Lauf des Lebens eben einiges angesammelt. Auf jeden Fall zu viel, viel zu viel. Bitte bloß keine neuen Freunde, ich komm ja nicht mal mit denen zurecht, die ich seit Jahren kenne, dauernd habe ich Freundschaftsschulden, muss wo anrufen, soll mich hier und da melden und da mal über ein Wochenende Skifahren oder Wellnessen, um Gottes Willen, bitte keine neuen Bekanntschaften. Manchmal, wenn Mona irgendwo warten musste, blätterte sie in ihrem Terminplaner ein halbes Jahr nach vorne, dorthin, wo außer den Geburtstagen fast nichts stand, höchstens mal ein Seminar oder ein Jubiläum. Viel Weiß. Darin weidete sie sich eine wohltuende Weile. Die meisten ihrer Freundschaften waren alte Gewohnheiten. Klar hatte sie Zeit für ihre Freundin Vroni, wenn die mal in der Stadt war, schließlich war sie mit Vroni zur Schule gegangen, und Vroni zu treffen bedeutete, sich zu vergewissern, dass die eigene Vergangenheit tatsächlich passiert war. Als Zeitzeugin reichte Vroni. Da musste nicht auch noch Bessi dazu. Obwohl – wenn Vroni sterben würde, hätte sie Bessi. Wieso war ihr die bei B nicht eingefallen? Bessi konnte sie auch reanimieren, wenn sie sie brauchte. Brauchen. Wen aus diesem fetten Adressbuch brauchte Mona? Durfte sie angedenk ihres Wertsystems das Adressbuch und Brauchen überhaupt in einem Satz nennen? Sollte sie zwei Adressbücher führen? Eines für business und eines für privat? Und wo war die Grenze? Durfte man sich privat brauchen? Oder meinte sie mit Brauchen Gebrauchenkönnen? War Monas Adressbuch eine Cholesterindeponie? Unsere Mona Hilgenberger ist nach langem Kampf tragisch und von uns allen unbemerkt innerlich und äußerlich an Freundschaft verschieden.

Es waren nicht nur die Vronis, die alte Garde sozusagen, die zum Glück nicht mehr in der Stadt wohnte. Hatten alle weggeheiratet, da konnte Mona sich nicht beschweren. Hatten auch alle Kinder bekommen und waren deshalb ziemlich beschäftigt, derzeit mit ihren Scheidungen. Es waren eher die von irgendwo aus der Welt und ihre sporadischen Besuche. Dazu jene, mit denen sie bekannt war, die sie gelegentlich traf. Musste sie ihre beste Freundin Andrea tatsächlich einmal in der Woche sehen? Und warum war ihr Andrea nicht als Erstes eingefallen? Waren diese Treffen wirklich so wichtig? Mona wurde heiß. Allein der Gedanke kam ihr wie Frevel an der Freundschaft vor. Aber sie wollte auch mal Zeit für sich haben. Zum Sport, fürs Sofa, einfach so. Und natürlich Zeit für Luna, die neue Hauptperson in ihrem Leben. Wenn ich all diese Menschen nicht mehr treffen müsste, dachte Mona, dann könnte ich öfter zu Hause sein. Mit dem Hund spazieren gehen, dafür habe ich ihn mir doch angeschafft. Was würde mir fehlen? Mona seifte sich ein. Mit der Vanillewaschlotion, ein Geschenk von Sonja. Die Vanillelotion könnte sie sich auch selbst kaufen, würde sie aber nicht, da sie Vanille nicht mochte.

Mona schlug auf den Hebel der Dusche, ging, ohne sich abzutrocknen ins Wohnzimmer, nahm das Adressbuch zur Hand, warf es in Lunas Korb dem Löwen vor. Luna legte den Kopf schräg. „Deins“, sagte Mona. Luna machte keine Anstalten, das Büchlein anzugreifen. Mona musste deutlicher werden. „Fass!“, befahl sie. Doch den Befehl hatte Luna noch nie gehört und als Labrador würde sie ihn wohl auch nie verstehen. Also musste Mona ran. Sie öffnete die Tischschublade und fasste die Schere.

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