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Von Bleiben war nie die Rede

Es kommt nicht allzu oft vor, dass ein Arbeitstitel es letztlich auf das Cover schafft. Dass meine Idee sich bei diesem Buch bis zum Schluss geblieben ist, freut mich noch immer.  

Und auch von der wundervollen Kabarettistin und Sterbeamme Karin Simon habe ich viel gelernt, vor allem übers Leben, das noch viel heller leuchtet, wenn wir dem Tod ins Auge sehen.

 

 

 

Ich verrate Ihnen ein Sterbenswörtchen

In jedem Leben gibt es Herausforderungen, Prüfungen. Man macht vielleicht Abitur oder den Führerschein. Oder lässt es bleiben. Vor einigen großen Herausforderungen kann man sich nicht drücken. Krankheiten und Krisen fragen nicht um Erlaubnis, ehe sie eintreten. Aber kurioserweise stellt man im Nachhinein oft fest, dass ihre Bewältigung das Leben bereichert hat: Weil ich das Leben erst richtig zu schätzen gelernt habe.

Im Falle des eigenen Todes hilft Prüfungsangst wenig. Petrus oder wer auch immer an der Tür steht, wird wohl kaum ein Attest entgegennehmen, das bescheinigt, dass das Sterben auf unbestimmte Zeit verschoben werden müsse. Gestorben wird, das ist so, denn: Wer A sagt, muss auch B sagen. Wer geboren wird, muss oder darf auch sterben. Mit diesen zwei Wörtern, muss oder darf, ist schon viel gesagt. Ich werde trotzdem noch ein paar mehr benötigen, um Ihnen, meine lieben Leserinnen und Leser, vom Sterben zu erzählen. Dass das vielseitig ist, erschließt sich schon aus der Schreibweise. Wir haben den Tod mit D und sind tot mit T. Woher ich das weiß? Bin ich vielleicht schon mal gestorben?

Nein, nur fast. Als Dreijährige wäre ich beinahe ertrunken und ein paar Jahrzehnte später fast an Krebs gestorben. Dazwischen und auch heute noch habe ich als Krankenschwester und Sterbeamme hunderte von Menschen auf ihrem letzten Weg begleitet und unzählige Gesichter des Todes gesehen. Meistens breitet sich am Ende ein großer Frieden aus, und oft bleibt als letztes ein Lächeln.

Ich bin fest davon überzeugt, dass man dem Tod eine gute Landebahn bereiten kann. Damit es weniger holpert, weil die Angst nicht an Bord ist. Zum Beispiel wegen einer Sterbeamme als Fluglotsin. Eine wie ich. Was genau sich hinter diesem Begriff verbirgt, erfahren Sie natürlich auch in diesem Buch und vieles mehr, das hoffentlich Licht ins Dunkel bringt, das gar nicht so dunkel ist, wie man landläufig glauben mag. Bitte keine Sterbensangst: Sie werden sich nicht totlachen! Aber Schmunzeln und Lächeln und auch Lachen ist erwünscht und hoffentlich gestatten Sie es sich. Denn so was tut man ja eigentlich nicht. Also bei uns. Tod und lustig, das geht nicht zusammen. Das merke ich auch zu Beginn meiner Auftritte. Zuerst sitzt das Publikum ein wenig verkrampft im Saal, obwohl es den Mut hatte, sich auf ein „Sterbekabarett“ einzulassen. Die ersten Lacher sind noch verhalten … darf man denn über so was lachen? Nach drei, vier Nummern vergessen die Zuschauer ihre Zurückhaltung und amüsieren sich einfach. Oft gibt es vor dem Applaus eine Pause, ein nachdenklicher Moment, in dem der eine und die andere für sich etwas erkennt, sich merken will. Heiter geht es weiter und heiter geht es leichter. Auch und gerade ganz zum Schluss. Doch leider wird das landläufig als geschmacklos verurteilt oder als Blasphemie.

Ich bin sehr evangelisch erzogen worden und war oft in der Kirche mit meiner Mutter. Später habe ich auch bei Kindergottesdiensten mitgearbeitet. Einmal, es war Ostern, besuchte ich mit meiner Zwergerl-Gruppe den Gottesdienst. Am Tag zuvor hatte ich ihnen von Jesus am Kreuzweg erzählt und dass die Jünger um seine Kleidung würfelten. Mitten in die Stille der Andacht platzte ein Sechsjähriger heraus, der zuvor lang und nachdenklich auf das große Kreuz über dem Altar geblickte hatte. „Tante Karin, der Jesus ist ja gar nicht nackig. Der hat eine Unterhose an. Sogar aus Gold.“

Nach einer Schrecksekunde platzte die Gemeinde vor Lachen laut heraus. Nur einer hielt stand, die Bibel unerbittlich in der Hand. Unser Herr Pfarrer. Nach dem Gottesdienst bat er mich, der Kirche fernzubleiben, da ich wohl nicht verstanden hätte, dass dies ein Ort des Ernstes sei. Ich glaube, er sagte heiliger Ernst. Es gibt aber auch eine heilige Heiterkeit! Die fühlt sich nicht nur gut an, sie ist auch heilsam!

Im Laufe der Jahre habe ich mir einen Werkzeugkoffer zusammengestellt, um die Reise ins Jenseits zu erleichtern und die Bleibenden in der Abflughalle zu unterstützen. Dabei haben mir meine zahlreichen Ausbildungen geholfen, unter anderem zur Krankenschwester, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Sterbeamme, Traueramme. Die Sterbeamme begleitet die Reisenden, die Traueramme kümmert sich um die Dagebliebenen.

Wenn wir Nähe zu Sterbenden zulassen, und das wird in diesem Buch geschehen, sind wir mit unserer eigenen Endlichkeit konfrontiert. Diese Tatsache ist kein Drama, sondern normal. So ist es und punkt. Man lehnt sich doch auch nicht dagegen auf, dass man zwei Arme hat. Wenn Sie es genau betrachten, dann freuen Sie sich vermutlich über dieses Wunder. Zwei Arme, zwei Hände, zehn Finger zum Entdecken, Essen, Werkeln, zärtlich und kreativ sein, jeder Finger ein Schlüssel zur Welt. Und dann fällt Ihnen vielleicht ein, dass es Menschen gibt, die haben einen Finger oder zwei oder sogar eine ganze Hand, einen Arm verloren Da wird Ihnen Ihre Hand gleich noch kostbarer, richtig? Vielleicht nehmen Sie sich vor, sie ab sofort wertzuschätzen. Jeden Tag einmal, beschließen sie, streichle ich bewusst mal drüber. Danke Hand. Schön, dass du da bist. Und nach einer Weile vergessen Sie es. Vielleicht begegnen Sie irgendwann einem Menschen mit Gicht oder einer nach einem Schlaganfall gelähmten Hand. Da fällt es Ihnen wieder ein und Sie fragen: Kann ich dir zur Hand gehen? Und dann tun Sie etwas für ihn, und Sie merken, dass Sie es auch für sich tun. Fast fühlt es sich an, als hätten Sie eine dritte Hand geschenkt bekommen. Eine gebende. Und das macht glücklich, stimmt’s?

Wir alle sind miteinander verbunden. Wir vergessen es nur manchmal. Ohne Hilfe wären wir nicht auf die Welt gekommen. Keiner von uns wird allein geboren, es ist zumindest eine Mutter da und sehr oft helfende Hände. Und so sollte es auch am Ende sein und war es auch einmal weit verbreitet, als der Tod noch nicht ausgelagert war und die Verwandtschaft sich am Sterbebett versammelte, ganz ohne Umstände, saß und wartete. Hin und wieder seufzte jemand, schüttelte ein Kissen auf, streichelte mitfühlend eine Wange. Keiner kam auf die Idee, bei einer Psychologin anzurufen und zu fragen, ob der kleine Max einen bleibenden Schaden davontragen würde, wenn er den Opa a) krank und b) als Leiche sieht.

Heute werden Kranke, Alte, Sterbende und Tote vielerorts aus dem Alltagsleben entfernt und professionellen Kräften übergeben. Was mit Sterben und Tod zusammenhängt, läuft Gefahr, zum Tabu zu werden. Oder ist es schon. Den Tod, den wir vor Augen haben – jeden Tag dutzend- oder hundertfach, je nachdem, wie lange wir vor dem Bildschirm sitzen, der ist virtuell, nicht aus Fleisch und Blut. „Echte“ Tote, vielleicht die Eltern oder Großeltern, haben die wenigsten Menschen gesehen, aber Tausende von Leichen im Fernsehen.

Bei unserem ersten Atemzug, wenn sich unsere Lungen entfalten, wenn wir zum Erdenbürger werden … In diesem Moment werden wir befruchtet vom Tod, der in uns heranwächst, um am Ende unseres Lebens geboren zu werden. Leben heißt schwanger sein mit dem Tod. Eine ungewöhnliche Vorstellung? Gruselig? Das ist Einstellungssache, und an der will ich mit diesem Buch ein wenig drehen. Denn es bringt ja nichts, sich gegen Dinge aufzulehnen, die unveränderbar sind.

Auf einmal war ich tot und habe es gar nicht gemerkt!

Es ist schnell dahingesagt: Irgendwann bin ich dran. Aber ganz tief drin. Da gibt es eine Hoffnung, einen Kinderglauben, dass das nicht sein kann. Dass man eine Ausnahme ist oder zumindest: Dass es dann, wenn es schon sein muss, ganz schnell geht. Idealerweise im Schlaf. Auf einmal war ich tot und habe es gar nicht gemerkt. Doch das erscheint nur auf den ersten Blick verlockend. Auf den zweiten könnte es sein, dass uns dann eine Menge entgeht. Ein Leben ohne Tod, das ist eben nur ein halbes. So verrückt es klingt: Erst das Bewusstsein über den Tod macht das Leben bunt, intensiv und vor allem: inspiriert zur Selbstverwirklichung. Dass man sein eigenes Leben lebt. Nicht das, was andere Leute glauben, was man tun sollte. Ach, es ist noch viel verflixter: Denn oft leben wir so, wie wir glauben, dass andere wollen, dass wir leben, was wir aber gar nicht merken. Hospizhelfer berichten, dass Menschen ein bewusst gelebtes Jahr intensiver empfinden können als zehn, die einfach so vergangen sind, und sogar sagen, dass sie den Preis dafür gerne zahlen: ihren Tod. Und dass sie nun gut Abschied nehmen können – weil sie wissen, wovon, und dass es sich gelohnt hat.

Sie merken es vermutlich, dass es in diesem Buch vom Sterben vor allem um das Leben geht. Nicht nur, weil ich noch nie einen Toten mit einem Buch in der Hand gesehen habe. Wozu auch? Wer „drüben“ ist, der hat Antworten, statt Fragen. Der glaubt nicht oder ahnt, der weiß. Ich glaube auch etwas, nein, ich lehne mich aus dem Fenster: Ich weiß es. Dass nämlich jeder Mensch in sich die Fähigkeit hat, durchs Schlüsselloch zu blicken und die Verbindung zum hellen Leuchten unserer geistigen Welt wahrzunehmen. Weil ich so aufgewachsen bin und weil ich sie in meinem Sterbekabarett auf der Bühne so anspreche und in meinen Liedern besinge, nenne ich diese höhere geistige Welt in meinem Buch hin und wieder „lieber Gott“. Wenn ich einen Namen für meinen Glauben finden sollte, würde ich sagen, dass ich an die Schöpfung glaube, die sich in der Natur offenbart, ja, vielleicht steckt eine bayerische Schamanin in mir. Manchmal öffnet sich das Fenster ins Jenseits, in die Anderswelt einen Spalt. Sehr häufig ist das so, wenn man einen Menschen bei seinem Übertritt begleitet. Damit tut man nicht nur diesem Menschen einen großen Dienst, sondern auch sich selbst. Irgendwann ist jeder an der Reihe, und es schadet nicht, wenn man schon mal ein bisschen geübt hat.

Wir würden doch niemals im Leben unvorbereitet in Prüfungen, Konfliktgespräche, ein erstes Rendezvous gehen. Wir schaffen uns rauf, was wir wissen müssen, wir entwickeln Strategien und frisieren und rasieren uns sorgfältig. Der Tod aber erwischt uns kalt, wir begegnen ihm erstaunt, als hätten wir noch nie von ihm gehört. Ups, wie jetzt? Ich soll abtreten? Unverzüglich? Wo sind die Jahre geblieben, und Moment mal, dagegen bin ich doch immun, das trifft nur die anderen.

Ich selbst habe den Tod zuerst als grausam und ungerecht erfahren. Ich habe ihn gehasst. Er hat mir das Liebste genommen, da war ich erst fünfzehn: meine Mutter. Danach quälten mich schreckliche Vorwürfe. Dass ich ihr nicht richtig geholfen hätte, dass ich bei ihr hätte bleiben müssen. Aber ich war weggelaufen. Feig, schalt ich mich. Und dachte damals, ich könnte es nie wieder gutmachen. Ich war zu schwach, warf ich mir vor. Der Tod stand meiner Mama nicht gut, wie es in einem Film heißt. Noch ehe er sein Werk vollendet hatte, hatte er Besitz von ihr ergriffen, so schlimm, dass es mich sogar ekelte. Vor meiner eigenen Mutter! Mein schlechtes Gewissen schien mich zu zerfleischen. Am schlimmsten war, dass ich es nicht rückgängig machen konnte. Jetzt war sie nicht mehr da. Etwas anderes kam in dieser schweren Zeit zu mir: Ein helles strahlendes Licht. So etwas Gleißendes, Schönes hatte ich noch nie gesehen. Auf einmal wurde alles ruhig und gut und friedlich. Sehr verwirrt, doch auch seltsam getröstet lernte ich, ohne meine Mutter zu leben – und auch ohne meinen Vater, der sich dem Alkohol zuwandte und bald einer anderen Frau, wie es so viele tun, die sich ablenken und schnell vergessen wollen. Viel später erst, als ich von diesem unvergesslichen Licht auch in den Erzählungen anderer Menschen hörte, begriff ich, dass meine Mutter mir mit diesem Licht sagen wollte: Alles ist gut! Und tatsächlich, auch wenn sie körperlich nicht mehr anwesend war, so war sie es doch auf eine andere Art, die ich zuerst unbewusst, später bewusst wahrzunehmen lernte. Seither haben mir zahlreiche Trauernde von den Botschaften erzählt, die sie von ihren Verstorbenen erhalten haben. Im Kapitel über Nachtoderfahrungen werde ich einige davon schildern. Auch wenn es uns so erscheinen mag, als wären Diesseits und Jenseits unwiderrufbar voneinander getrennt: Es gibt Brücken. In anderen Kulturen werden diese ganz selbstverständlich begangen, da gilt diese strikte Trennung wie bei uns übli h nicht.

Heute bin ich überzeugt davon, dass es der bessere Weg ist, den Tod nicht auszuschließen. Denn das, worum es wirklich geht, kann man nicht vergessen oder verdrängen. Man kann es einladen an den eigenen Tisch, es gut bewirten, um am Ende vielleicht ebenso gütig bedacht zu werden mit einem leichten Tod wie einer Nachspeise. Aber gewiss ist das nicht. Es ist überhaupt nichts sicher rund um das Thema Tod, und das macht es so spannend. Am Ende des Lebens lüften wir das größte Geheimnis und erleben unser größtes Abenteuer. Auch Woody Allen scheint trotz beträchtlicher Skepsis damit zu rechnen: „Ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod, obwohl ich ein Paar Unterhosen zum Wechseln mitnehmen werde.“

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