Nichts als die Wahrheit?

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Die Arbeit an diesem Buch war die reinste Sahnetorte für mich als Krimiautorin, ich habe so viel erfahren über Lüge, Wahrheit, Scheinerinnerungen … und das von dem führenden Professor für forensische Psychologie in Deutschland. Auch unsere Zusammenarbeit war ein Sahnestück. Was dabei herausgekommen ist, ist allerdings: harter Stoff. Man könnte fast sagen: Eine Kalorienbombe mit Betonung auf dem Schluss

 

 

 

Hier ein Häppchen aus der Einleitung des Buches von Max Steller:

Das kurze Glück von Ben

Das Lächeln in seinem Gesicht ging gar nicht mehr weg. Ben konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt so gut drauf gewesen war. Mann, er war verliebt! Zuerst hatte er nicht in diesen blöden Club gewollt. Aber dann war er mitgegangen, und da stand sie an der Säule. Ein Blitz hatte ihn getroffen. Er hatte sie auf einen Drink eingeladen und dann auf noch einen. Sie hieß Annkathrin, und Ben war seit gestern Nacht kein Single mehr. Sein Opa hatte ihm mal gesagt, dass er es sofort gewusst habe, dass er seine Oma heiraten würde. „Wenn es so weit ist, Junge“, hatte der Opa gesagt, „das spürst du.“ Und genau das hatte Ben in dieser Nacht gespürt. Sie war es. Und wie lieb sie ihn danach zugedeckt hatte. Und diese süße Zahnlücke zwischen den Vorderzähnen. Er würde noch eine Karte für das Konzert am Samstag besorgen. Da musste sie unbedingt mit. Seinen Kumpels würde der Mund offen stehen bleiben. Und wenn er das nächste Mal bei ihr in der Wohnung wäre, würde er die Toilettenspülung reparieren. Da lief ja ständig das Wasser durch.

Sein Handy klingelte. Er kannte ihre Nummer auswendig, obwohl er sie noch nie angerufen hatte. Er war ja erst kurz vor Sonnenaufgang nach Hause gefahren. Da hatte er sie nicht wecken wollen. Vielleicht schlief sie bis abends. Und er wäre auch gern bei ihr geblieben, aber er musste ja leider zur Arbeit. Mit Herzklopfen drückte er auf den grünen Hörer. „Hallo?“ Er klang heiser. Mist. Und er war auch viel zu früh rangegangen. Man muss die Bräute zappeln lassen, so predigte es Stefan immer, und der kannte sich aus. Ob das auch für die Richtige galt? Annkathrin wollte ihn treffen. Sofort. Sie sagte ihm, wo. Und dann legte sie auf. Das fand Ben ein bisschen komisch, aber vielleicht war sie auch aufgeregt. Egal, sie konnten ja später reden.

Er war zehn Minuten zu früh am Treffpunkt. Am U-Bahnhof entdeckte er einen Blumenladen. Die Verkäuferin räumte ihre Ware gerade weg, es war schon Ladenschluss. Zuerst wollte sie Ben nichts mehr verkaufen. Dann sah sie sein Lächeln. Alle sahen es. „Verliebt?“, fragte sie. Er nickte und kaufte eine Sonnenblume. Eine. Weil, Sträuße verschenkten ja nur ältere Leute. Die Sonnenblume passte zu Annkathrin. Sie war seine Sonne.

Er ging um die Ecke, da stand sie. Er hob den Arm, um zu winken. Plötzlich von hinten ein Schubs, er begriff nicht, was geschah, dann lag er auf dem Boden und alles, was er sah, war die Blume im Dreck. Er dachte, dass doch jemand ihre zarten gelben Flügelchen aus der Pfütze nehmen müsste. Dann wurde er hochgerissen. Die Arme wurden ihm schmerzhaft auf den Rücken gebogen, und er bekam Handschellen angelegt. Zwei Männer zerrten ihn zu einem vergitterten Polizeiwagen. Niemand redete mit ihm. Auf der Wache erst wurde ihm eröffnet: „Sie stehen im Verdacht, Frau Annkathrin Weber vergewaltigt zu haben.“

Annkathrin hatte Ben angezeigt, er habe sie vergewaltigt. Zwar habe sie ihn in der Nacht von Sonntag auf Montag zu sich eingeladen, aber was dann folgte, sei gegen ihren Willen geschehen. Was von Ben ganz anders geschildert wurde, als er endlich Gelegenheit bekam, sich zu äußern. Er erklärte, der Austausch von Zärtlichkeiten und auch der Geschlechtsverkehr seien einvernehmlich geschehen.

Und was glauben Sie? Ist Ben ein Vergewaltiger? Lügt er oder lügt Annkathrin?

Seit mehr als vierzig Jahren beschäftige ich mich wissenschaftlich mit Lüge und Wahrheit. Nach einem Psychologiestudium spezialisierte ich mich in dem Gebiet der Aussagepsychologie, also der Lehre vom Wahrheitsgehalt von Zeugenaussagen. Von 1988 bis zu meiner Pensionierung 2009 hatte ich die einzige Universitätsprofessur in Deutschland für gerichtliche Psychologie inne: an der Freien Universität Berlin und nach Umorganisation an der Charité Universitätsmedizin Berlin. Seit Jahrzehnten bin ich darüber hinaus bundesweit tätig als gerichtlich bestellter Sachverständiger für Glaubhaftigkeitsgutachten, unter anderem auch vor dem höchsten Strafgericht, dem Bundesgerichtshof (BGH) … Glauben Sie mir das alles?

Wenn der Herr Professor das sagt, dann wird es wohl stimmen?

 

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