Aussteigen, Einsteigen, Los!

Ich bin mit ausgestiegen und eingestiegen und losgefahren. Es war eine wunderschöne Zeit mit dieser außergewöhnlichen Familie!

 

 

Das unbekannte Ausland

Wir parkten vor dem Rathaus in Andechs am Ammersee. „Ich mach das jetzt einfach“, sagte ich zu Diana.

„Einfach“, wiederholte sie.

„Genau so“, bekräftigte ich. Alle hatten gesagt, dass es nicht klappen würde. Aber das hatten wir schon so oft in unserem Leben gehört. Und dann hatte es doch geklappt, wenn auch meistens anders, als wir uns etwas vorgestellt hatten. Das macht das Leben doch so spannend, oder?

„Also ich geh jetzt rein“, sagte ich noch einmal.

Diana lachte. In diesem Moment war ich unfassbar glücklich. Wir waren dabei, alles aufzugeben. Und meine Frau lachte. Sie glaubte den Schwarzsehern nicht , die uns prophezeit hatten, dass man sich nicht einfach so abmelden könne. Wer sich wo abmeldet, muss sich woanders anmelden. Das wollten wir aber nicht. Wir wollten das Abenteuer Freiheit wagen. Einfach los ins Blaue, ins Grüne, ans Meer. Keine Wurzeln, sondern Flügel, wenn auch Kotflügel. Seit einem halben Jahr arbeiteten wir an unserem Abschied aus der Wohnhaft. Auch die Hausratversicherung war gekündigt.

Ich stieg aus.

„Papa, krieg ich ein Eis?“ Unser Nesthäkchen, die vierjährige Lilly, winkte aus dem Fensterspalt des Busses.

„Wenn es klappt“, sagte ich.

„Was denn?“

„Wenn ich uns abmelden kann.“

„Du musst einfach sagen, dass ich ein Eis will.“

„Dann klappt es bestimmt“, schmunzelte Diana.

„Ich auch!“, rief Simon. „Zur Sicherheit.“ Er war sieben und überließ seiner kleinen Schwester ungern das letzte Wort.

Schließlich mischte sich Lukas, unser Neunjähriger, ein und teilte mit „Ich nehm das Eis auf jeden Fall.“

Ich überquerte die Straße, blieb auf der anderen Seite stehen, sah Diana und die Kinder in unserem „Fluchtfahrzeug“. In diesem Moment kam ich mir fast wie ein Bankräuber vor. Hatte ich nicht ein bisschen etwas Ungesetzliches im Sinn? Aber wir wollten niemandem etwas wegnehmen, wir wollten nur geben: den Kindern und uns selbst die Freiheit.

Auf der Gemeinde war wenig Betrieb an diesem Vormittag.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte eine freundlich dreinblickende Mittfünfzigerin.

„Ich würde mich gern abmelden. Und meine Kinder und meine Frau auch.“ Ich legte unsere Dokumente auf den Tresen.

Sie öffnete das entsprechende Formular an ihrem Computer, tippte, dann fragte sie: „Und jetzt die neue Adresse bitte. Wohin ziehen Sie?“

„Das wissen wir noch nicht.“

„Ach, ist Ihr Haus noch nicht fertig? Das hören wir häufig. Es ist aber auch ein Trauerspiel mit den Handwerkern heutzutage. Gibt ja fast keine mehr und alle Kinder sollen studieren.“
„Nein, wir haben kein neues Haus. Wir wollen uns einfach nur abmelden.“
„Abmelden“, wiederholte sie und fügte „final“ hinzu, was mir ein klein wenig unpassend erschien, aber irgendwie war es auch richtig; aus den Registern wollte ich uns gern verschwinden lassen.

„Hm“, machte sie, nachdem sie eine Weile herumgeklickt hatte. „Wissen Sie, das ist im System nicht vorgesehen.“

„Das habe ich vermutet“, sagte ich. Mein Leben war genau genommen noch nie in einem System vorgesehen. Ich kam als schwarzer Junge in Deutschland zur Welt, verbrachte meine ersten Monate im Waisenhaus und wurde dann von einer liebevollen Familie mit einem nordisch klingenden Nachnamen adoptiert. Genauso systeminkompatibel war es weitergegangen. Schon oft hatte eine Sachbearbeiterin nach einem Kästchen für mich gesucht und keines gefunden. Manchmal war es dann sehr kompliziert geworden.
„Hier hab ich was“, strahlte die Frau plötzlich. „Wie wäre es mit unbekanntes Ausland?“

„Unbekanntes Ausland? Das klingt gut! Das nehme ich! Bitte fünf Mal mit Sahne. Darf ich Sie auf ein Eis einladen?“

„Das wäre Bestechung“, schmunzelte sie, klickte hier und klickte da, und dann waren die Johannsens abgemeldet.

Die ausgedruckten Bestätigungen in der Hand schwenkend rannte ich über die Straße. Diana sah auf den ersten Blick, dass es geklappt hatte. Wir kannten uns seit über zehn Jahren und hatten viel miteinander erlebt, Schönes und Schlimmes, an dem andere Beziehungen manchmal zerbrechen. So wie den Tod unserer geliebten Tochter Zara.

„Und wie war’s?“ fragte Diana.

„Genauso wie ich gesagt habe: einfach. Wir hätten uns nicht so viele Gedanken machen brauchen. Sogar eine neue Adresse haben wir.“

„Eine Adresse?“, wiederholte Diana mit einem Fragezeichen im Gesicht.

Ich stieg ins Auto „Wir wohnen jetzt im unbekannten Ausland.“

„Papa, wo ist das?“, fragte Lukas.

„Das weiß ich noch nicht“, sagte ich.

„Aber woher wissen wir dann, dass wir da sind?“

„Das spüren wir.“

„Und dann wohnen wir da?“

„Vielleicht. Vielleicht ist das unbekannte Ausland wie ein Regenbogen, dem wir folgen.“

„Mit einem fliegenden Teppich?“, hoffte Lilly.

„Mit einem Quad!“, rief Lukas.

„Mit einem Raumschiff“, ergänzte sein Bruder.

„Also mir reicht unser toller neuer Bus “, sagte ich, und alle drei stimmten sofort zu.

Diana und ich wechselten einen Blick. Wie so oft in den letzten Wochen versicherten wir uns, dass wir das Richtige wagten. Auch wenn wir ständig hörten, dass das Wahnsinn war. Das ist verantwortungslos! Das werden euch eure Kinder nie verzeihen! Wartet mal ab, bis sie größer sind! Ihr seid komplett verrückt. Seht ihr denn nicht, wie schön ihr es hier habt? So was gibt man doch nicht auf!

Als würde uns der Abschied von der Sicherheit leichtfallen! Nein, es war nicht einfach, und unsere Herzen bluteten auch und zitterten manchmal ganz schön ängstlich. Aber alle fünf hatten Ja zu diesem Abenteuer gesagt, wenngleich sich die Kinder nicht allzu viel darunter vorstellen konnten. Sie mussten sich von lieb gewonnenen Orten, Menschen und Gewohnheiten verabschieden. Kein Fußballverein mehr und kein Tanzen, keine Seen vor der Haustür, Minigolf, schnell mal quer über die Wiese zu den Spielkameraden. Ja, vermutlich waren wir wahnsinnig, unser gemütliches Haus zu räumen. Wie lang hatten wir es gesucht, wie glücklich waren wir gewesen, mittendrin im fetten Oberbayern und gesegnet obendrein am Heiligen Berg in Andechs, dreißig Autominuten nach München. Stadt und Land, alles beieinander und fünf Seen vor der Haustür: Starnberger See, Ammersee, Wörthsee, Pilsensee, Weßlinger See – bei Föhn gesäumt von den Alpen zum Greifen nah. Wohnen, wo andere Urlaub machen. Der riesige Garten, die netten Nachbarn. Wir hatten die Zäune abgebaut und teilten uns mit drei Familien einen tollen Spielplatz für die Kinder. … Gestern hatten wir die Schlüssel abgegeben. Wir waren schon öfter umgezogen, mussten uns mit der wachsenden Familie ja auch vergrößern. Aber dieser Schlüssel kam uns nicht nur wie einer zu einer Wohnung vor. Er war wie ein Schlüssel zu einem Lebensabschnitt, den wir nun unwiderruflich verlassen würden. Diana und ich würden viele lieb gewonnene Gewohnheiten aufgeben und vor allem die Menschen, die für uns ein Stück Heimat geworden waren. In einem Wort: Sicherheit, psychisch und physisch.

„Es ist der völlig falsche Zeitpunkt“, hörten wir oft. Oder war es genau der richtige? Nach harten Jahren des Aufbaus hatte sich unser Yogastudio Namasté in Herrsching etabliert. Dessen Schlüssel hatten wir bereits abgegeben. Diana hatte zudem Schüsseln abgegeben, indem sie den Kunden ihres Catering Service Karma Cooking schonend beigebracht hatte, dass der Ofen nun bald aus wäre. Wochenlang hatten wir Aktenordner durchforstet, um uns aus den bürokratischen Fängen zu befreien. Wir hatten Versicherungen, Mitgliedschaften, Abonnements gekündigt – was manchmal sehr schwierig war. Wir waren überrascht, wie viele Krakenarme uns umfingen, mit den Jahren waren sie meterlang gewachsen. Zu Beginn hatten wir geglaubt, wir bräuchten vielleicht einen Monat. Letztlich dauerte es mehrere Monate. Und immer wieder führten wir dieselben Gespräche. Nicht wenige unserer Kunden waren schlichtweg sauer, weil sie lieb gewonnene Gewohnheiten verloren. Aber wir machten auch Platz – zum Beispiel an der Montessori-Schule. Wie hatten wir uns gefreut, weil Lukas aufgenommen wurde, das war wie ein Sechser im Lotto, und auch für seinen Bruder hätten wir dieses Glück gehabt. Wir hatten den Tippschein zurückgegeben.. Simon würde in wenigen Wochen kein Schulkind sein, sondern ins unbekannte Ausland reisen. Auch Lilly würde ihren geliebten Kindergarten gegen diesen Ort im Regenbogenland eintauschen.

Also wenn es euch hier schlecht gehen würde, wenn ihr arbeitslos wärt oder eure Kinder Asthma hätten und salzige Seeluft zum freien Atmen bräuchten, wenn so was wäre … ja, dann könnten wir das verstehen. Nein, es ging uns nicht schlecht. Wir hatten alles. Wir machten das Gleiche wie alle anderen und kamen uns dabei super individuell vor. Genau das war das Problem. Denn um unseren hohen Lebensstandard zu halten, arbeiteten wir rund um die Uhr und hatten zu wenig Zeit. Kinder durch die Gegend kutschieren, zum Sport und Musikunterricht und zu ihren Freunden; Urlaub, wenn alle Urlaub machen, weil Ferien sind. Montessori-Schule und Yoga, vegan, kein Schneckenkorn im Salatbeet, ökologische Putzmittel, Feuertonne im Garten. Alles perfekt, tippi-toppi, wunderbar. Aber ganz ehrlich: In gewisser Weise funktionierten wir im vorgegebenen Takt. Wie hörte sich unser eigener Rhythmus an?

Mit diesem Buch möchten wir Sie einladen, öfter mal die Perspektive zu wechseln. Wenn Sie bis zu dieser Stelle gelesen haben, reisen Sie vielleicht mit? Sonst hätten Sie das Buch weggelegt, und wir wären einfach nur verrückte Spinner in Ihren Augen. Wir haben es uns nicht leicht gemacht. Wir haben wochen- und monatelang diskutiert und nachgedacht, Pläne geschmiedet, verworfen … und kamen immer zum selben Schluss: Es wäre Wahnsinn zu bleiben …

weil wir so viel wie möglich von unseren Kindern mitbekommen wollen.

weil wir in Einklang mit der Natur leben wollen.

weil wir unseren Kindern alternative Lebensformen zeigen möchten.

weil wir frei von Angst leben wollen.

weil wir unseren Kindern ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen wollen.

weil wir nachhaltig leben wollen.

weil wir gesund sein möchten.

weil wir in Frieden leben wollen.

weil wir in Liebe leben möchten.

weil wir keine Zäune und Grenzen wollen.

weil wir mit anderen Menschen wirklich in Kontakt sein möchten.

weil wir nach unseren Werten leben wollen.

weil wir viel Zeit mit unseren Liebsten verbringen möchten.

weil wir unser Leben bewusst gestalten wollen und nicht als Konsumenten.

Was brauchen wir wirklich?

… Als Erstes ein Auto!

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