Aus der Schreibmaschine geplaudert
Hallo Frau Seul, wir hier im Lehrerkollegium sind uns gerade nicht einig, was sie mit ihrer Geschichte Allmorgendlich sagen wollen. Wir haben uns fast gestritten. Es wäre nett, wenn Sie uns kurz ihre Interpretation schicken könnten. Mit freundlichen Grüßen
Irgendwas war doch hier faul. Ein Lehrerkollegium mit solchen Schwächen in der Groß- und Kleinschreibung? Am Abend trudelte noch eine Mail ein:
Hallo Frau Seul, muss Hausaufgabe machen. Über Kurzgeschichte von dir. Was soll ich sagen? Bitte Mail bis Mittwoch in zwei Seiten. Olli.
Am nächsten Tag: Sehr geehrte Frau Seul, es wäre total nett, wenn sie mir verraten können, was sie sich bei ihrer Kurzgeschichte Allmorgendlich gedacht haben.
Die Geschichte „Allmorgendlich! habe ich im Alter von neunzehn Jahren geschrieben, vielleicht ist sie deshalb der Renner in Schulbüchern, und sie wurde auch schon als Prüfungsaufgabe in Deutsch für die Mittlere Reife verwendet.
Was ich mir also dabei gedacht habe?
Nichts.
Ich saß im Bus und hatte eine Idee. Und genauso läuft es heute noch.
Was allerdings nicht zum Lehrkörper durchgedrungen zu sein scheint. Ich erinnere mich gut, wie es mich einschüchterte, wenn meine Deutschlehrerin uns erzählte, was sich die Autoren alles gedacht hatten, bevor sie ihre Geschichten schrieben und was sie damit sagen wollten. Und wir sollten das nachempfinden in unseren Erörterungen.
Ich hätte auch gern geschrieben, aber mir fehlten all diese Gedanken davor und deshalb war ich wohl doch keine Schriftstellerin?
Heute sehe ich es so: Ich schreibe. Andere denken sich aus, was ich gemeint haben könnte. Manchmal fällt mir dann selbst etwas ein. Aber immer erst danach, wenn ich quasi auch schon eine andere bin.
Und jetzt kommt die Geschichte, mein Schulbuch-Hit:
Allmorgendlich
Jeden Morgen sah ich sie. Ich glaube, sie fiel mir gleich bei der ersten Fahrt auf. Ich hatte meinen Arbeitsplatz gewechselt und fuhr vom Ersten des Monats an mit dem Bus um 8.11 Uhr.
Es war Winter. Jeden Morgen trug sie den kirschroten Mantel, weiße, pelzbesetzte Stiefel, weiße Handschuhe, und ihr langes, dunkelbraunes, glattes Haar war zu einem ungewöhnlichen, aber langweiligen Knoten aufgesteckt. Jeden Morgen stieg sie um 8.15 Uhr zu und ging mit hoch erhobenem Kopf auf ihren Stammplatz, vorletzte Reihe rechts, zu. Das Wort mürrisch passte gut zu ihr. Sie war mir sofort unsympathisch. So geht es mir oft: Ich sehe fremde Menschen, wechsle kein Wort mit ihnen und fühle Ablehnung und Ärger bei ihrem bloßen Anblick. Ich wusste nicht, was mich an ihr so störte, denn ich fand sie nicht schön; es war also kein Neid.
Sie stieg zu, setzte sich auf ihren seltsamerweise immer freien Platz, holte die Zeitung aus ihrer schwarzen Tasche und begann zu lesen. Jeden Morgen ab Seite drei. Nach der dritten Station griff sie erneut in die Tasche und holte – ohne den Blick von der Zeitung zu wenden – zwei belegte Brote hervor. Einmal mit Salami und einmal mit Mettwurst. Lesend aß sie. Sie schmatzte nicht und trotzdem erfüllte mich ihr essender Anblick mit Ekel. Die Brote waren in einem Klarsichtbeutel aufbewahrt und ich fragte mich oft, ob sie täglich einen neuen Beutel benutzte oder denselben mehrmals verwendete.
Ich beobachtete sie ungefähr zwei Wochen, als sie mir gegenüber das erste Mal ihre mürrische Gleichgültigkeit aufgab. Sie musterte mich prüfend. Ich wich ihr nicht aus. Unsere Feindschaft war besiegelt. Am nächsten Morgen setzte ich mich auf ihren Stammplatz. Sie ließ sich nichts anmerken, begann wie immer zu lesen. Die Stullen packte sie allerdings erst nach der sechsten Station aus.
Jeden Morgen vergrämte sie mir den Tag. Gierig starrte ich zu ihr hinüber, saugte jede ihrer mich persönlich beleidigenden, sich Tag für Tag wiederholenden Hantierungen auf, ärgerte mich, weil ich vor ihr aussteigen musste und sie in den Vorteil der Kenntnis meines Arbeitsplatzes brachte.
Erst als sie einige Tage nicht im Bus saß und mich dies beunruhigte, erkannte ich die Notwendigkeit des allmorgendlichen Übels. Ich war erleichtert, als sie wieder erschien, ärgerte mich doppelt über sie, den Haarknoten, der ungewöhnlich und trotzdem langweilig war, den kirschroten Mantel, das griesgrämige Gesicht, die Salami, die Mettwurst und die Zeitung.
Es kam so weit, dass sie mir nicht nur während der Busfahrten gegenwärtig war, ich nahm sie mit nach Hause, erzählte meinen Bekannten von ihrem unmäßigen Schmatzen, dem Körpergeruch, der großporigen Haut, dem abstoßenden Gesicht. Herrlich war es mir, mich in meine Wut hineinzusteigern; ich fand immer neue Gründe, warum ihre bloße Gegenwart mich belästigte. Wurde ich belächelt, beschrieb ich ihre knarzende Stimme, die ich nie gehört hatte, ärgerte mich, weil sie die primitivste Boulevardzeitung las und so fort.
Man riet mir, einen Bus früher, also um 8.01 Uhr zu fahren, doch das hätte zehn Minuten weniger Schlaf bedeutet. Sie würde mich nicht um meinen wohlverdienten Schlaf bringen!
Vorgestern übernachtete meine Freundin Beate bei mir. Zusammen gingen wir zum Bus. SIE stieg wie immer um 8.15 Uhr zu und setzte sich auf ihren Platz. Beate, der ich nie von IHR erzählt hatte, lachte plötzlich, zupfte mich am Ärmel und flüsterte: “Schau mal, die mit dem roten Mantel, die jetzt das Brot isst, also ich kann mir nicht helfen, aber die erinnert mich unheimlich an dich. Wie sie isst und sitzt und wie sie schaut.”
Sehr geehrte Frau Seul,
in meinw Klasse kahm die Diskussion auf ob der/die Ich-Erzähler/in eine Frau oder Man ist. Könnten sie diesbezüglich eine Stellungsnahme abgeben.
Unsere Theorie in der Klasse waren :
Für eine Frau spricht: Z.16f.: “Ich wusste nicht, was mich an ihr
so störte, denn ich fand sie
nicht schön; es war also kein
Neid”
Für ein Mann spricht: soweit nichts aber im Text steht kein
Wort was für ein Mann oder Frau spricht
Ich hoffe Sie oder jemand anders kann mir/meiner Klasse die Antwort liefern.
Ps: Ich entschuldige mich für die Rechtschreibfehler die ich
hier mache.
Mit freundlichen Grüßen
Finn Wolf
Hallo Finn Wolf,
ich bin sehr beeindruckt, was hier herausgelesen habt, also wie ihr detektivisch versucht, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Was ja auch bedeutet, dass ihr annehmt, so oder anders sprechen Männer oder Frauen. Und dass ihr nicht glaubt, es sei automatisch eine Frau, bloß weil die Verfasserin eine ist. Oder ist es ein Pseudonym? Es ist alles möglich ;-) und so sage ich die Wahrheit: Ihr habt alle Recht. Denn, um mit Marcel Proust zu sprechen: Jeder Leser ist ein Leser seiner selbst. Alles Gute für euch und liebe Grüße an die Klasse!!!
Liebe Frau Seul,
es ist wohl besser, die Schüler v.a. danach zu fragen, welche Wirkung der Text auf einen selbst hat.
Allerdings wäre die ehrliche Antwort oft „ gar nicht“.
Leider wird die Autorenabsicht in der Abschlussprüfung immer noch verlangt.
Die Geschichte ist auf jeden Fall spitze, besonders liebe ich die Frage nach der eventuellen Mehrfachnutzung des Beutels! Einfach, was einem so alles durch den Kopf gehen kann…
Dankeschön!
Ja, das stimmt! Aber das bin ich eigentlich nie gefragt worden … dabei, um mit Proust zu sprechen: Jeder Leser ist nur ein Leser seiner selbst.
Herzliche Grüße!
Liebe Frau Seul,
ich selbst bin Deutschlehrerin und immer auf der Suche nach einer guten Kurgeschichte. Ich habe Ihre Geschichte tatsächlich in einem Arbeitsheft zur Prüfungsvorbereitung gefunden und stieß dann ganz unvermittelt auf ihre Webseite. Normalerweise schreibe ich keine Kommentare, doch Ihre Aussage, dass Sie von Ihrer Deutschlehrerin eingeschüchtert waren, fand ich einfach nur grandios und ich kann das sehr nachvollziehen – es ging mir nämlich ähnlich.
Danke dafür
Liebe Deutschlehrerin, danke!!! Diese Geschichte ALLMORGENDLICH steht mittlerweile wohl in hunderten von Deutschbüchern … ich habe sie mit 19 geschrieben … und mir tatsächlich nichts dabei gedacht, sonst wären Deutschlehrerinnen ja arbeitslos, aber auch das dachte ich damals nicht ;-)
Danke