The Track – Auf Umwegen zur Extremläuferin

Inhaltlich war das mein härtestes Buch: 877 Kilometer in  sechzehn Tagen. Zum Glück bin ich nur Buchstaben gelaufen.  Brigid Wefelnberg schafft das mit Schritten: unglaublich, die Leistungen dieser Power-Frau!

 

Vorlauf

Noch nie war ich so aufgeregt vor einem Lauf wie vor diesem – achthundertsiebzig Kilometer über die Pyrenäen. Und das non-stop in vierhundert Stunden, rund sechzehn Tagen. Die TransPyrenea war die größte Herausforderung meiner Lauf-Bahn. Ich war bestens vorbereitet und hatte ausnahmsweise sogar gezielt trainiert. Normalerweise mache ich keine Trainingspläne. Ich laufe einfach, weil es auch so begann: Eines Tages lief ich einfach los im Schwarzwald, und dann immer länger, immer weiter, und auf einmal war ich im Extremsport gelandet. Das hatte ich mir nicht vorgenommen, es lief wie von selbst. Weil mich das Laufen glücklich macht; die Grenzen, die ich überwinde, die Natur, die ich durchquere. Es ist ein bisschen so, als würde ich die Landschaften durch die extremen Bedingungen noch intensiver erfahren. Bei der TransPyrenea würde ich allerdings häufig auf mein GPS blicken müssen. Es gab keine klare Route, den Weg zum Ziel musste ich mir selbst erarbeiten. Allein das Kartenmaterial nahm ausgelegt zwanzig Meter ein. Ich konnte mich aber nicht darauf verlassen, ideale Wetterbedingungen zum Navigieren per Karte vorzufinden. Was machst du bei einem Sturm, bei peitschendem Regen in der Dunkelheit? Da hilft dir das beste Kartenmaterial keinen Schritt weiter. Also GPS, wie es mittlerweile bei manchen Läufen Pflicht ist. Gerade in der Wüste, umgeben von Dünen, die alle gleich aussehen, hängt das Leben nicht am seidenen Faden, sondern am Leitstrahl. Da überprüft man seine Ersatzbatterien nicht bloß dreimal, eher sechsmal. Ich bin ja noch ein bisschen old school. Nach Karte zu laufen macht einen zusätzlichen Reiz für mich aus. Keine Markierungen, keine Streckenposten, die dir die Richtung weisen. Nur du allein und die Natur. Diese unglaubliche Stille, lediglich durchbrochen von deinem Atem und den Füßen auf der Erde. Erde! Die kann so unterschiedlich sein. Manchmal hart, dann moosweich, glatt, geröllig, steil, sandig, gefährlich, glitschig, felsig, und zuweilen brauchen die Füße Unterstützung von den Händen; es gibt Passagen, die sind nur auf allen Vieren zu bewältigen. Oder mit Beinen, die bis zu den Schenkeln im Matsch stecken. Vor allem in der Wüste braucht es stellenweise sogar kräftigen Armeinsatz, um die hohen Sandberge zu erklimmen, da schlage ich die Arme, als würde ich durch Wasser kraulen, in die Dünen.

Pro Jahr absolviere ich drei bis vier große Läufe und zusätzlich den 24-Stunden-Lauf für Kinderrechte in Freiburg, bei dem ich im Schnitt einhundertvierzig Kilometer erreiche. Da meine Läufe so kräftezehrend sind, trainiere ich nicht täglich, außerdem bin ich „nebenbei“ noch Vollzeit berufstätig als Leiterin des deutschen Büros einer indischen Softwarefirma. Am Wochenende bin ich zuweilen acht Stunden auf meinen Läuferinnenbeinen. Dieses Training bringt mir wirklich etwas. Eine Stunde joggen am Morgen, darauf verzichte ich, ich laufe ja sozusagen in einer anderen Dimension. Das heißt nicht, dass ich werktags ruhe, ganz im Gegenteil: Alltagstraining hat einen hohen Stellenwert bei mir, jedoch nicht, um meine Fitness zu steigern, sondern um ein gewisses Grundlevel zu bewahren. So nutze ich jede Gelegenheit, um mich zu bewegen. Rolltreppen und Fahrstühle ignoriere ich aus Prinzip. Neulich erlebte ich wieder einen Klassiker: In einem Hotel, in dem ich zu einem Meeting verabredet war, fragte ich am Empfang nach der Treppe. Ein livrierter Mitarbeiter geleitete mich zu den Fahrstühlen. Als ich abermals um den Weg zur Treppe bat, schaute er mich an, als sei ich ein bisschen merkwürdig. Es waren immerhin neun Stockwerke. Und ich hatte eine große Tasche dabei, auf die der Mann dann auch deutete, kummervoll geradezu. Was für mich eine Freude ist, hätte für ihn eine Strafe bedeutet. Bei solchen Begegnungen grinse ich meistens in mich hinein. Ich finde es meinerseits ein bisschen verrückt, wenn sich Leute, die sehr wohl die Gelegenheit dazu hätten, den ganzen Tag nicht bewegen, an ihrem Arbeitsplatz nur den Lift benutzen, mit dem Auto auch Kurzstrecken fahren, aber abends in der Muckibude wird gesportelt. Das wäre für mich Zeitverschwendung; ich kann das doch alles miteinander verbinden. Gerade die Bewegung draußen macht mir unglaublich viel Spaß. Was man da alles mitkriegt! Das hat schon eine andere Erlebnisdichte als auf dem Laufband im Fitnessstudio. Ich glaube, dass viele Menschen gar nicht mehr darüber nachdenken, sie wählen automatisch den komfortabelsten Weg, als gäbe es keine Alternative. Dabei fängt das Abenteuer gerade dann an, wenn man die Komfortzone verlässt. Man muss einfach nur beginnen, womit auch immer. Dann verpasst man auch nichts, ganz im Sinne von John Lennon: „The tragedy of life is not death, but what we let die inside of us while we live.“

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