Wenn der Tod plötzlich kommt

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Dieses Buch finde ich spannender als viele Krimis. Der Tod, um den es hier geht, ist ja auch kein erfundener. Andreas Müller-Cyran und Peter Zehentner haben ihm Hunderte von Malen in die Augen geschaut. Und den Menschen, die dann verzweifelt vor den Trümmern ihres Lebens stehen: Mein liebster Mensch ist gestorben. 

Nachfolgend eines meiner vier Lieblingskapitel aus Wenn der Tod plötzlich kommt

Mutti schläft

Holger kam zwei Stunden früher als gewöhnlich von der Arbeit nach Hause, weil der Gabelstapler kaputt gegangen war. Deshalb würde das Essen noch nicht fertig sein. Normalerweise stand das ruck, zuck auf dem Teller, kaum hatte er die Wohnung betreten. Mutti war auf zack. Vielleicht konnte sie ihm jetzt gleich zwei Eier braten.

„Grüß Gott, Herr Nikol“, grüßte ihn die Nachbarin von rechts.

Holger brummte etwas zurück und schloss die Tür auf. Er konnte die Nachbarin von rechts nicht ausstehen. Die von links auch nicht. Immer hatte er das Gefühl, die würden hinter seinem Rücken über ihn reden. Aber wegen den beiden alten Schachteln würde er bestimmt nicht ausziehen, auch wenn er schon bald vierzig war. Holger wusste, was er an seiner Mutti hatte. Und abgesehen davon konnte er sich bei den Mietpreisen in München keine eigene Wohnung leisten.

Holger trat in den Flur und rief „Mutti!“

Keine Antwort.

Vielleicht war sie noch beim Einkaufen, obwohl sie das doch meistens vormittags machte, womöglich hatte sie etwas vergessen. Das war in letzter Zeit öfter passiert. Mutti wurde irgendwie alt.

„Mutti!“, rief Holger noch einmal, und dann stutzte er. An der Garderobe hing ihre graue Jacke. Ohne die ging sie selbst im Sommer nicht raus. Auch das Portemonnaie war da, wo es hingehörte, neben dem Keller- und Briefkastenschlüssel. Komisch, dachte Holger. Er wollte ins Bad. Da sah er, dass Licht brannte, und jetzt hörte er auch die Stimme des Sprechers von Radio Arabella. Wahrscheinlich hatte Mutti ihn nicht gehört.

„Mutti!“, rief Holger zum dritten Mal.

Aus dem Bad drang keine Antwort. Seufzend ging Holger in die Küche und wusch sich dort die Hände. Darauf legte Mutti Wert. Als erstes nach dem Heimkommen die Hände waschen. Sonst schleppte man Bazillen ein. Beim Abtrocknen bemerkte er, dass Muttis Frühstücksgeschirr noch am Tisch stand. Und die Küche war nicht aufgeräumt. Komisch, dachte er. Dann schob er das Geschirr zur Seite und blätterte im Fernsehprogramm. Mutti kam nicht aus dem Bad. Allmählich hatte er aber Hunger. Zögernd ging er durch den Flur vor die Badezimmertür und klopfte „Mutti?“

Keine Antwort. Nur Musik von Radio Arabella und das Plätschern des Wassers. So lang konnte doch keiner duschen. Das war doch nicht mehr gesund. Und er hatte jetzt wirklich großen Hunger. Vorsichtig drückte Holger die Klinke hinunter. „Mutti?“, fragte er leise. Und dann schob er die Tür einfach auf. Da lag Mutti. In der Badewanne, ganz merkwürdig lag sie da, so verrenkt. Blut tropfte aus ihrem Hinterkopf, der ganze Boden voller Blut. Über die Beine von Mutti lief das Wasser aus der Dusche. Voll peinlich. Schnell warf Holger ein Handtuch über Mutti. Nackt hatte er sie selten gesehen. Anscheinend ging es ihr nicht gut, ihr Gesicht hatte eine komische Farbe, graublau irgendwie. Es sah gar nicht aus wie das Muttigesicht. Holger stellte das Wasser ab, packte Mutti unter den Schultern und hievte sie aus der Wanne. Zum Glück war Mutti nicht schwer. Aber es ärgerte ihn schon, dass aus ihrem Kopf Blut tropfte, sie legten eine Spur durch die ganze Wohnung, und wenn Mutti krank war, blieb das Aufwischen an ihm hängen. Mehr vorsorglich denn fürsorglich legte er ein Handtuch auf Muttis Kissen. Mutti wachte nicht mal auf. Sie schien sehr müde zu sein und schlief im Bett gleich weiter.

Holger deckte Mutti sorgfältig zu, dann putzte er den Flur. In der Küche stand noch immer kein Essen auf dem Tisch, also musste er zu Reni in die Kneipe, die würde ihm bestimmt einen Strammen Max machen.

Als Holger vier, fünf Biere später nach Hause kam, schaute er gleich nach dem Händewaschen bei Mutti rein, aber die schlief noch immer. Er selbst war auch hundemüde und legte sich sofort ins Bett. Um halb sechs in der Früh klingelte sein Wecker. Wie immer blieb er liegen. Aber Mutti kam nicht, um ihm zu sagen, dass der Wecker geklingelt hatte. Maulend stand er auf. In der Küche roch es nicht nach Kaffee, auf dem Tisch stand noch immer das Geschirr von gestern. Was war bloß mit Mutti los?

Er klopfte an ihre Schlafzimmertür, sie antwortete nicht. Vorsichtig öffnete er. Mutti schlief noch immer. Und irgendwie sah ihr Gesicht komisch aus. Aber das lag bestimmt an der Beleuchtung.

„Mutti, ich pack’s dann mal“, verabschiedete er sich.

Auf dem Weg zur U-Bahn kaufte er sich einen Kaffee und eine Butterbreze. Ganz schön teuer. Wurde Zeit, dass Mutti wieder auf Trab kam.

Weil er gestern so früh nach Hause gegangen war, obwohl er überhaupt nichts dafür konnte, dass der Gabelstapler Macken hatte, musste er heute länger arbeiten. Das war mal wieder typisch Chef. Seine schlechte Laune sank noch tiefer, als Holger beim Nachhausekommen feststellen musste, dass Mutti noch immer nicht aufgestanden war. Es roch nicht lecker nach Leberkäse mit Bratkartoffeln, obwohl heute Donnerstag war. Das gab es immer am Donnerstag, weil es am Freitag Fischstäbchen gab.

Holger klopfte an Muttis Tür. Wie zu erwarten, lag sie im Bett. Wahrscheinlich war ihr übel, so grün, wie ihr Gesicht aussah. Man müsste aber auch mal lüften. Es waren ziemlich viele Fliegen im Zimmer, und einige davon krochen der Mutti sogar in die Nasenlöcher. Dass sie das nicht störte. Wo Mutti doch so reinlich war. Sie musste wirklich sehr müde sein. Achselzuckend ging Holger in die Küche. Eingekauft hatte Mutti natürlich auch nicht. Da musste er schon wieder zu Reni, das würde ein teurer Monat werden. Hoffentlich gab es morgen wenigstens Frühstück und Fischstäbchen.

Am Freitag kam, statt der Fischstäbchen, ich zu Holger. Die Polizei hatte mich verständigt, weil er, als seine Mutti am Freitagnachmittag noch immer im Bett lag, bei der Polizei angerufen hatte. Es waren nun bereits sehr viele Fliegen nicht nur im Schlafzimmer, sondern in der ganzen Wohnung. Holger meldete der Polizei „Meine Mutter liegt dauernd nur im Bett und ich habe nichts zu essen.“

Der Beamte, der den Anruf entgegennahm, reagierte unwirsch. Doch dann beschloss er, vorsichtshalber eine Streife vorbeizuschicken. Die Uniformierten nahmen bereits im Treppenhaus einen bekannten Geruch wahr, dem man lieber aus dem Weg geht und den man lange nicht aus der Nase bekommt. Als Holger die Tür öffnete, entwischte ein Dutzend Fliegen. „Scheiß Fliegen“, murmelte er und wedelte vor seinem Gesicht herum.

Die Beamten wechselten einen Blick. Holger sah zwar ungepflegt aus, aber nicht in einem solchen Maß, dass der Geruch erklärt wäre.

„Dürfen wir mal reinkommen zu Ihnen in die Wohnung?“, fragte die Polizeibeamtin.

„Mutti schläft“, erwiderte Holger unsicher. Normalerweise bestimmte Mutti, wer die Wohnung betrat und wer nicht. Er zögerte. Dann öffnete er die Tür, denn Mutti ging es ja nicht gut.

„Wo ist denn Ihre Mutti?“, fragte die Polizistin.

„Ja, das ist ja das Problem“, erklärte Holger. „Seit Tagen liegt sie im Bett und steht nicht auf. Jetzt ist Wochenende, und ich hab nichts zu essen.“

Der Polizist ging an Holger vorbei auf die Schlafzimmertür zu.

„Sie müssen aber klopfen!“, rief Holger. „Das ist Muttis Zimmer.“
Der Polizist klopfte und öffnete gleichzeitig. Ein Schwarm Fliegen schoss heraus. Der Polizist stieß einen Laut des Entsetzens aus und versuchte dann, ein Würgen zu unterdrücken. Die Polizistin öffnete vorsichtshalber das Holster ihrer Waffe und ließ Holger nicht aus den Augen.

Als ich Holger vorgestellt wurde, hatte sich der erste Verdacht, der Sohn habe etwas mit dem Tod seiner Mutter zu tun, nicht erhärtet, im Gegenteil. Es war allen klar, dass Holger schwer verwirrt nicht mit dem Ableben seiner Mutti zurechtkam, die doch nur geschlafen hatte, und auf einmal sollte sie tot sein. Holger war sehr verstört. Es kam mir so vor, als wäre jetzt erst die Nabelschnur zu seiner Mutti durchtrennt. Ohne sie schien er nicht lebensfähig. Holger wollte unbedingt zurück in die Wohnung. Doch das war nicht möglich. Sie musste erst gründlich gereinigt werden; die Polizei hatte sie versiegelt. Zu meinen Aufgaben gehörte es, Holger gut unterzubringen. Nachdem er mir aufgezählt hatte, wie Muttis Speiseplan aussah, dass man sich beim Nachhausekommen immer gründlich die Hände waschen musste und nicht öfter als zweimal in der Woche zu Reni gehen durfte, schluchzte er plötzlich „Ich habe immer geglaubt, dass die Mutti wieder aufsteht. Ganz fest hab ich daran geglaubt.“

„Haben Sie denn irgendwelche Verwandten?“, erkundigte ich mich.

„Ich will heim.“
„Das geht im Moment nicht.“

„Aber ich will nach Hause.“

„Es tut mir leid, Sie haben doch gehört, was die Polizisten Ihnen erklärt haben. Haben Sie Verwandte?“

„Die Mutti hat einen Bruder.“
Holger starrte durch die getönten Scheiben des KIT-Busses und schüttelte den Kopf. Für ihn war das alles unbegreiflich.

„Wo wohnt der Bruder denn?“

„In Haidhausen“, nannte er einen nur wenige Kilometer entfernten Stadtteil Münchens.

„Soll ich Sie zu Ihrem Onkel fahren?“, bot ich Holger an.

„Nein, ich will hier bleiben. In der Wohnung.“

„Wir müssen vorübergehend ein Ausweichquartier für Sie finden.“

„Aber ich wohne hier.“

Ich schwieg.

„Und außerdem redet die Mutti schon seit Jahren nicht mehr mit ihrem Bruder. Da will ich ganz bestimmt nicht hin. Ich will in unsere Wohnung. Ich will heim“

„Die Wohnung muss erst gesäubert werden. Das ist wichtig.“

„Aber das kann Mutti doch machen!“

Ich beschoss, Holger in die Psychiatrie zu bringen.

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