Ich sehe das, was ihr nicht seht

Bildschirmfoto 2014-11-27 um 14.03.27

 

Pamela Pabst war mittlerweile in fast jeder deutschen Talkshow und verblüffte die Zuschauer. Ja, sie ist blind. Und ich habe selten einen so fröhlichen Menschen getroffen – obwohl der Lebensweg der einzigen von Geburt an blinden Rechtsanwältin in Deutschland  alles andere als einfach war.

 

Nachfolgend ein Textauszug, in dem die blinde Pamela Pabst Auto fährt

Vollgas!

Ich liebe Autofahren und fiebere dem Moment entgegen, wenn ich selbst am Steuer sitzen darf. Zusammen mit dem Fahrlehrerverband, Blinden- und Sehbehindertenvereinen und einigen Sponsoren findet der Aktionstag Blind am Steuer in zahlreichen Bundesländern statt. Für mich ist Autofahren pure Freude. Allerdings fühle ich mich nicht größer oder schöner, wenn ich hinterm Steuer sitze. Aber für viele blinde Männer bedeutet Autofahren mehr – wie auch für sehende. Und deshalb ist es schmerzhaft für sie, darauf zu verzichten. Bei Blind am Steuer können sie ein bisschen auftanken. Manche steigen an Ende weinend aus dem Auto, so aufgewühlt sind sie.

Durch einen Zufall geriet ich an denselben Fahrlehrer, der meine Mutter unterrichtet hatte. Herr Biedermann bescheinigte mir „Sie haben auf jeden Fall mehr Talent als Ihre Mutter.“ Was meine Mutter, ohne mir schmeicheln zu wollen, bestätigte.

Natürlich werden wir Blinden und Sehbehinderten nicht auf den normalen Straßenverkehr losgelassen, sondern bewegen uns auf einer gesicherten und abgesperrten Sonderstrecke. Außerdem sitzt ein Fahrlehrer oder eine Fahrlehrerin neben uns und passt auf. Beim ersten Mal brauchte ich nur fünfundvierzig Minuten, um die Funktionsweise des Autos zu begreifen. Ein Schaltgetriebe ist mir lieber als eine Automatik. Herr Biedermann machte mir einmal ein schönes Kompliment: „Ich würde mir wünschen, meine sehenden Fahrschüler hätten ein ebenso gutes Gespür für den Motor wie Sie.“ Das ging mir runter wie Öl!

Herr Biedermann ist sehr einfühlsam. Wie jeder seiner an Blind am Steuer teilnehmenden Kolleginnen und Kollegen hat er den Kurs selbst einmal in Begleitung und mit Augenbinde abgefahren, damit er sich wenigstens ein bisschen vorstellen kann, wie sich der blinde oder sehbehinderte Fahrschüler neben ihm fühlt. Wir tun aber immer so, als wäre ich gar nicht blind. Das macht noch mehr Spaß.

„Tach, Frau Pabst.“

„Tach, Herr Biedermann.“

„Ich würde vorschlagen“, sagt Herr Biedermann, „als Erstes verstellen Sie mal den Sitz.“

Wenn ich den Hebel nicht gleich finde, gibt er mir einen Tipp. „Ja, in diesem Modell ist der Griff zur Regulierung gut versteckt, rechts unten.“
„Im Grunde genommen“, erwidere ich locker, „sind alle Autos gleich.“

„Da hamse Recht“, erwidert Herr Biedermann, während ich den Sitz weit nach vorne schiebe, damit ich mit meinen 1,52 m und entsprechend langen Beinen an die Pedale komme. Dann schließe ich die Tür und greife nach dem Gurt.

„Spiegel einstellen“, erinnert mich Herr Biedermann.

Spätestens da müssen wir zum ersten Mal lachen. Ich werde aber schnell wieder ernst und stimme ihm zu „Ich muss schließlich wissen, was hinter mir passiert.“

„Ich mach das mal für Sie“, sagt Herr Biedermann und hantiert am Spiegel.

„Passt es so?“

„Höher.“

„Und jetzt?“

„Tiefer. Noch ein Stück – okay, jetzt passt es.“
„Gut, Frau Pabst. Dann gebe ich Ihnen mal den Schlüssel.“

Er reicht ihn mir und vergewissert sich „Und Sie erinnern sich noch an alles?“

„Ich darf beim Abbiegen den Blick über die Schulter nicht vergessen.“

„Sehr gut. Und die Gangschaltung? Noch alles im Gedächtnis?“

„Klar. Ich bin ja keine Anfängerin.“

„Nein, ganz bestimmt nicht.“

Ich schnalle mich an, und dann geht es los.

Ich liebe das Gefühl, unter den Füßen den Schleifpunkt zu spüren, wenn sich der Wagen in Bewegung setzt. Meine Hände liegen locker am Lenkrad, die Daumen auf dem Lenkhorizont, wie Herr Biedermann es mir empfohlen hat. Zuerst fahren wir geradeaus, dann drehe ich ein bisschen nach rechts, nach links, und wenn ich es übertreibe, korrigiert Herr Biedermann sanft. Er weist mir auch den Weg: geradeaus, Kurve rechts, mehr, weniger, Kurve links, geradeaus. Es ist wundervoll zu spüren, wie das Auto, das ich steuere, über den Asphalt gleitet. Und noch toller ist es zu bremsen. Am liebsten mag ich die Vollbremsung, wenn ich den Wagen vorne knicksen lasse. Allein mit meinem Fuß auf dem Bremspedal bewege ich dieses tonnenschwere Gefährt.

Nach einer Weile schlägt Herr Biedermann vor: „Jetzt können wir mal ein bisschen Feuer geben.“

Ich drücke aufs Gaspedal. Der Motor wird lauter. Ich schalte höher. Und noch höher. Und bleibe auf dem Gas. Herr Biedermann sagt den Tachostand an. „Sechzig, siebzig, achtzig, neunzig, hundert.“ Ich öffne das Fenster, der Wind bläst mir ins Gesicht. Ich fahre Auto. Ich bin glücklich.

Bei der schönsten Autofahrt meines Lebens saßen meine Eltern im Wagenfond. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, diese beiden lieben Menschen eine Weile herumzukutschieren. Wir fuhren aber nicht 130 km/h, sondern blieben unter hundert. Seltsamerweise bewunderte mein Vater nicht mich, sondern Herrn Biedermann.

„Ich an Ihrer Stelle“, ließ er ihn wissen, „würde das nicht aushalten.“
„Bei der Pamala fühle ich mich vollkommen sicher“, erwiderte Herr Biedermann und machte mir damit erneut ein schönes Kompliment.

Als Kind bin ich sehr gern auf meinem gelben Dreirad gefahren. Meine Eltern hatten manchmal Mühe, mir nachzukommen. Vollbremsung kannte ich damals noch nicht, bloß Gas geben, und zwar kräftig. Manchmal banden sie mich an ein Seil, damit ich ihnen nicht davonfuhr. Als ich den steilen Weg zum Park hinabbretterte, war ich ohne Sicherheitsleine unterwegs. Die scharfe Kurve konnte ich nicht sehen und fuhr geradeaus weiter. Ich überschlug mich mehrfach und büßte einen Milchzahn ein. „Der wäre sowieso rausgefallen“, meinte meine Mutter, als wir beide uns von dem Schreck erholt hatten. Ich bin hart im Nehmen und war nie zimperlich; als Blinde bin ich daran gewöhnt, öfter mal zu fallen oder mich zu stoßen.

Als mein Vater abends nach Hause kam, zeigte ich ihm stolz meine Zahnlücke. „Jetzt kann ich nur noch Suppe essen, Papa.“

Er fand das nicht so lustig wie ich.

Von schlimmen Unfällen bin ich stets verschont geblieben, und ich habe mir nie etwas gebrochen. Mein blutigster Unfall war ein Sturz über das Staubsaugerkabel, bei dem ich mir eine lange Platzwunde vom Haaransatz bis zur Nasenwurzel zuzog, weil ich mit dem Gesicht auf die Bettkante knallte. Zum Glück bin ich nie von der Bahnsteigkante gefallen. Ich kenne einige Blinde, die das erleben mussten. Ich banne die Gefahr, indem ich mir denke: Das ist mir noch nie passiert, also wird es mir auch in Zukunft nicht passieren.

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