Das Glück geht nicht zu Fuß

41ReJCurufL._SL160_ 2Eigentlich nur ein kleiner Routineeingriff – doch als Ines Kiefer aus der Narkose erwacht, spürt sie ihre Beine nicht mehr.  Auch diese Frau hat mich nachhaltig beeindruckt. Sie gehört zu den fröhlichsten Menschen, die mir jemals begegnet sind. Mittlerweile hat sie zwei Kinder und alle ihre Träume verwirklicht. Sie modelt sogar. Ines Kiefer weiß, wie das mit dem Glück geht, nein fährt. 

Nachfolgend ein Textauszug aus Das Glück geht nicht zu Fuß, in dem Ines Kiefer erfährt, dass sie ab der Brustwirbelsäule gelähmt ist.

Als ich wieder bei Bewusstsein war, lag ich auf der Intensivstation. Dass ich mich in Bayreuth befand, ahnte ich nicht. Schließlich war ich 200 km entfernt von meiner neuen Heimat in Narkose versetzt worden – und fliegen konnte ich nicht … oder doch? Ich hatte von Hubschraubern im Nebel geträumt und einmal war es mir vorgekommen, als hätte mich jemand auf einem Rollbett durch lange Gänge geschoben. Irgendetwas rasselte und von weit hörte ich einen Dampfhammer. Der Lärm wurde immer lauter und dann sah ich mich in einem Hubschrauber und ein Arzt saß neben mir, und Andi stand in einem dunklen Gang an meinem Bett und streichelte meine Wange mit eiskalten Händen. Ja … und in den Hubschrauber war ich von hinten eingeladen worden … dass sich da überhaupt eine Tür befand … die ist doch sonst an der Seite? In Träumen ist alles möglich. Und schon wieder träumte ich. Oder war ich wach? Ich war so müde und so schwer und fiel zurück in die Tiefen der Ohnmacht, trieb auf den Wellen der Narkosen, rauf und runter, mal tiefer, mal höher, schnappte nach Luft, doch über dem Wasser waberte der Nebel, wie eine zähflüssige Cremesuppe, und das Bollern des Hubschraubers zerschnitt sie in kleine dreieckige Stücke, die wie Taschentücher auf dem Meer meiner Müdigkeit segelten. Hin und wieder tauchte ein Puzzlestück meines Lebens auf wie hochgetrieben aus einem versenkten Schiff und mit dem Schiff war ein ganzer Tag untergegangen. Am Mittwochmorgen wurde ich in der Spezialklinik operiert und am Donnerstagnachmittag wachte ich auf in Bayreuth.

Weiter oben, dort wo die Sicht klar war, wachten andere über mein Schicksal. Von ihnen erfuhr ich später, was sich zugetragen hatte. Nach der Operation in der Spezialklinik wurde ich dort auf die Intensivstation verlegt. Angeblich sei ich wach geworden und habe geklagt, ich könne meine Beine nicht bewegen. Daraufhin habe man mir den Schmerzkatheder an der  Wirbelsäule gezogen.  Doch auch dann konnte ich meine Beine nicht bewegen, obwohl man mich nachdrücklich dazu aufgefordert habe. Panik breitete sich aus. Hektische Telefonate. Eine Klinik mit Kernspintomographen wurde gesucht, denn dieses Gerät – eigentlich Standard ­– fehlte in der Spezialklinik. Man musste sofort kontrollieren, was los war, um nach dem Befund weitere Schritte zu überlegen. Schweinfurt wurde angefragt, sagte ab, die Klinik war überbelegt. Bayreuth sagte zu. Der Hubschrauber war keine Einbildung. Nachts flog ich nach Bayreuth. Mein Freund Andi wurde informiert. Er rief meine Eltern an. Mein Vater wollte sofort losfahren, meine Mutter hielt ihn zurück, jetzt könnten sie ohnehin nichts unternehmen und in diesem aufgeregten Zustand sei das gefährlich: „Lass uns Morgen ganz früh losfahren.“

Im Kernspintomographen in Bayreuth wurde festgestellt, dass es an der Operationsstelle zu inneren Blutungen gekommen war. Not-OP. Deshalb habe ich so unterschiedliche Narben. Die Narben von der ersten OP in der Spezialklinik befinden sich an der Seite, man sieht sie kaum: zart und dezent. Die Narben von der Not-OP erscheinen grob und wild. Da war keine Zeit für künstlerische Ambitionen. Da ging es um Leben oder Tod. Das fand ich später witzig, dass die Dringlichkeit am Narbenbild abzulesen ist. Es ging um alles oder nichts. In der Not-OP wurde das Blut abgesaugt und die an der Wirbelsäule gequetschte Stelle entlastet. Niemand wusste, warum ich blutete. Die Wunde wurde trocken gelegt und ich bekam eine Drainage, damit Flüssigkeit abfließen konnte. Warum hatte ich in der Spezialklinik keine erhalten? War so was nicht normal nach Operationen?

Wach wurde ich Donnerstagnachmittag. Kein Zeitgefühl. Und keine Ahnung, wo ich war. Um mich alles verschwommen. Noch immer unter Wasser? Ein bisschen. Und außerdem halb blind ohne Brille oder Kontaktlinsen. Die waren noch in der Spezialklinik. Nur meine Krankenakte flog mit mir nach Bayreuth. Ich öffnete die Augen, erkannte nichts, sackte wieder weg. Zwei Narkosen hinter mir. Schmerzmittel dazwischen.

Schwimmen in der Cremesuppe, manchmal Kopf unter. Wachen. Schlafen. Schwestern am Bett. Bei meinen kurzen Ausflügen ins Bewusstsein sammelte ich Eindrücke. Ein großer Raum. Links und rechts Trennwände. Dahinter Schnaufen. An der Decke ein grünes Landschaftsbild. Ich konnte erahnen, was es darstellte, Wald, Wiese, Hügel. Grün beruhigt die Nerven? Schwimmende grüne Landschaft. Schläuche. Gepiepse. Monitore. Das Geschnaufe und Geröchle rechts und links meines Bettes beängstigte mich. Was war das? Wer war das? Was war hier überhaupt los? Ich fühlte mich nicht krank, bloß müde, grottenmüde, doch die Geräusche neben mir klangen elend und gruselig.

Irgendwann standen meine Eltern an meinem Bett. Woher kam die jetzt? Sie waren doch in Freiberg? Auf welchem Dampfer waren sie durch den Nebel zu mir geglitten? Ich erinnere mich an keine Worte. Als wäre ich taub, so tief unter Wasser. Waren das wirklich meine Eltern? Meine Mutter sah seltsam aus. Stand sie unter Drogen oder ich? Ihr Blick so verhangen, so fremd, so weit weg und … Vati … Vati weinte! Nein, das konnte nicht sein. Vati hatte noch nie geweint. Wieso sollte er weinen und warum … so weich, weich wie Watte der Nebel.

Später erzählten mir meine Eltern, dass auf dieser Station gerade umgebaut wurde, es gab kein Besprechungszimmer. Auf dem Flur, während Betten mit Patienten hin und her geschoben wurden, erklärte ihnen ein Arzt, was geschehen war. „Wir haben Ihre Tochter aus der Spezialklinik übernommen und im Kernspin festgestellt, dass sie innere Blutungen hat. Wir mussten notoperieren Jetzt liegt bedauerlicherweise eine Lähmung vor, doch das sagt noch nichts, die ist am Anfang bei so einem Fall praktisch normal. Es bestehen gute Chancen, dass die Lähmung wieder zurückgeht.“

„Elvi“, rief mein Vater, denn meine Mutter drohte umzukippen. Sie bekam ein Beruhigungsmittel und trotz meines eigenen Drogenrausches gelang es ihr nicht, den ihren an ihrer Tochter vorbeizuschmuggeln. … Es war grauenvoll, so hilflos im Bett zu liegen und das Leid meiner Eltern nicht lindern zu können. Dass ich ihnen diesen Anblick antun musste! Die Tochter, verkabelt mit Dutzenden von Schläuchen inmitten sterbenskranker Menschen. Aber bald waren sie wieder weg. Und ich auch.

Nebelbänke

Wie war der Moment, als du es mitgekriegt hast, dass du nicht mehr Laufen kannst, das werde ich oft gefragt. Diesen Moment gab es nicht. Er schlich sich an. Als könne er selbst nicht mehr laufen. Der Nebel lichtete sich und zog sich zu, ich schlief ein. Gnadenfrist.

Es war mir klar, dass die Operation nicht so verlaufen war, wie sie sollte. Gleichzeitig war mir das wiederum nicht klar, nicht in der ganzen Tragweite. Der Nebel wirkte wie ein Weichzeichner. Ich hatte andere Sorgen. Ein Problem war, dass mein Vater wegen mir weinte und ich ihn nicht trösten konnte. Ein anderes Problem war die Krankenschwester, die mir den Hintern abputzte. Das waren die Probleme, die mich akut beschäftigten.

Manchmal bewegte ich meine Beine. Ich bewegte sie eindeutig und ganz klar – im Kopf. Aber dieser Befehl kam nicht an. Ich spreizte meine Zehen. Nichts geschah. Ich spitzte meine Füße. Keine Antwort. Ich rief und rief und rief, aber niemand hörte mich da unten. Ungefähr ab des Solar Plexus hatten sie die Lautsprecher abgestellt. Ich sendete, es kam aber nichts an. Zum Glück begriff ich nicht, was das für meine Zukunft bedeutete, auch das kam nicht an. Im Nebel ist der Empfang miserabel. Rollstuhl, dachte ich irgendwann. Es hatte nichts mit mir zu tun. Die Fakten waren klar. Ich bewegte meine Beine, hatte im Kopf auch das Gefühl, sie zu bewegen, doch wenn ich sie anschaute, lagen sie wie zwei junge Baumstämme unter der Decke. Das Ausmaß meiner Situation war mir überhaupt nicht bewusst. Vielleicht dachte ich, es sei vorübergehend. Beunruhigender fand ich das komische Gefühl in meiner Brust. Es war, als hätte mir jemand einen Gürtel umgebunden, zwei Fingerbreit unterhalb der Stelle, wo der BH sitzt, dort, wo man auch einen Pulsmesser anlegt. Dieser Gürtel war viel zu eng geschnürt. Er drückte mir zwar nicht die Luft ab, aber das Atmen war beschwerlich und dieses Gefühl der Einschränkung und Enge, dieser permanente Druck störte mich sehr. Immer wieder fasste ich an die Stelle. Da war nichts. Das irritierte mich total. Dass da nichts war, aber so deutlich, und es trotzdem nicht verschwand.

Fingerspiele

Die Nacht von Donnerstag auf Freitag war die schlimmste meines Lebens. Irgendwann in der Dunkelheit wachte ich auf. Der Nebel hatte sich zurückgezogen. Ich fühlte mich fit und klar. Draußen vor den Fenstern tobte ein Sturm. Vielleicht hatte er den Nebel fort geblasen. Es jaulte und säuselte und ächzte. Es dauerte eine Weile, bis ich dieses Heulen und Röcheln zuordnen konnte. Der Wind blies rechts und links neben mir. Schnaufte.

Grunzte. Ich drehte meinen Kopf nach rechts und links, konnte jedoch nichts erkennen außer einer weißen stoffbezogenen Trennwand. So lag ich putzmunter in einem Meer von Geräuschen. Manchmal piepste es. Dann brach ein Schnaufen ab, um bald darauf grausig röchelnd erneut einzusetzen. Ich war wach und ausgeschlafen wie noch nie in meinem Leben. Ich hatte stunden-, ja tagelang geschlafen. Los schlaf jetzt, bald wird es hell, befahl ich mir selbst. Doch es ging nicht. Ein Schäfchen. Zwei Schäfchen, drei. Es funktionierte nicht. Wie spät war es überhaupt? Ich schaute auf das komische grüne Bild über mir und versuchte etwas zu erkennen. Alles verschwommen. Ich kniff die Augen zusammen? Schäfchen? Eins, zwei, drei. Nein. Bäume? Ach, ich könnte einen ganzen Wald ausreißen. Wie lang dauert eine Minute? Warum kam niemand? Wie lange zog sich diese Nacht denn noch hin? Und immer das Geschnaufe und Gestöhne und schnarchende Geräusche, mit denen ich nichts zu tun haben wollte. Ich hatte keinen Unfall hinter mir, bei dem meine Knochen gebrochen waren, ich war nicht verletzt oder krank, ich war nur operiert und ansonsten fit. Und jung. Noch keine zwanzig.

An meinem Zeigefinger befand sich ein Klipp. Später erfuhr ich, dass er die Sauerstoffsättigung meines Blutes maß. Ich nahm ihn ab. Knipste ein paarmal durch die Luft. Legte ihn wieder an. Nahm ihn wieder ab. Setzte ihn auf den Mittelfinger, wackelte damit. Nahm ihn ab und probierte alle Finger durch. Mal langsam, mal schnell, rechte Hand, linke Hand … Zehen. Da tauchte der Gedanke auf. Huschte um die Ecke und weg war er. Wieder zurück an den Zeigefinger. An und ab und an und ab und an und ab. Plötzlich ging ein Alarm los und eine weißgekleidete Gestalt erschien an meinem Bett.

Sie nahm mir den Klipp aus der Hand und befestigte ihn ordnungsgemäß an meinem Mittelfinger.

„Das sollen Sie nicht machen!“, sagte der Pfleger ein klein wenig genervt.

„Mir ist so langweilig.“

„Versuchen Sie zu schlafen.“

„Ich kann nicht.“

„Versuchen Sie es trotzdem.“

„Wie spät ist es?“

„Halb zwei.“

„Kann ich was zum Einschlafen haben?“

„Ich bring Ihnen was.“

Er brachte nichts und ich spielte weiter. An und ab und an und ab und an und ab. Immer länger dehnte ich die Pausen aus und versuchte herauszufinden, wann der Alarm losgehen würde. Ringfinger, Mittelfinger, Daumen, zehn Zehen hat der Mensch, wie hießen die eigentlich genau, großer Zeh … Daumen, Zeigefinger, Pause, bis drei zählen, Mittelfinger, Ringfinger, bis fünf …

„Sie sollen doch nicht damit spielen!“

„Ich bin noch immer wach.“

„Ja, meinetwegen, aber lassen Sie die Finger von … äh von Ihren Fingern.“

„Mir ist so langweilig!“

„Ich bringe Ihnen was zum Einschlafen.“

Brachte er mir was? Ich weiß es nicht mehr. Vielleicht ruderte mich das Geschnaufe und Gestöhne dann doch auf die Insel des Schlafes, vielleicht auch nicht, denn ich bemerkte den ersten gräulichen Streifen Morgendämmerung, der sich durch ein Oberlicht schob. Und dann erwachte die Station. Stimmen. Schranktüren. Fußgetrappel. Quietschen. Die erste Schwester „Guten Morgen!“

Es klang nicht so wie Krankenschwestern in manchen Serien auftreten, wenn sie fröhlich Türen aufreißen und Patienten aus dem Schlaf hochschrecken. Es klang gedämpft. Eine ältere Frau mit grauem Haar strich mir fast verstohlen über die Backe, ihre Hände waren warm und weich, ehe sie damit begann, mich zu waschen. Sie sagte kein Wort dabei und ich sagte auch nichts, ich staunte eher und schämte mich gleichzeitig, aber da war so viel Mitgefühl in ihren Bewegungen, dass es irgendwie nicht so schlimm war, obwohl es grauenhaft war. Sie wusch mich wie ein hilfloses Baby. Überall. Natürlich merkte ich, dass ich meine Beine nicht spürte. Auch den Bauch spürte ich nicht und den Po, die Hüften. Nur diesen unangenehmen Druck um den Brustkorb. Ich verstand das alles nicht und ich hatte kein Bedürfnis nachzufragen. Vielleicht war ich noch einmal tief hinein gefahren in die Nebelbänke, weit hinter den Leuchtturm, und wenn, dann war das gut so: Gnadennebel.

Neben mir stöhnte und schnaufte es weiter und ich überlegte, wer da wohl liegen mochte. Ich beschloss rechts ein Mann und links eine Frau, es war seltsam, so nah zu sein mit diesen fremden Menschen, mit ihren Geräuschen und ihrem Schmerz. Ich wollte heim zu Andi und ins Fitnessstudio. Wir hatten ausgemacht, mindestens dreimal wöchentlich zu trainieren. Wenn ich so lange aussetzte, würde er einen Konditionsvorsprung kriegen, den ich ihm nicht gönnte.

Irgendwann stand ein älterer auf den ersten Blick sympathischer Arzt an meinem Bett, der mit ruhiger Stimme freundlich mit mir sprach. Er fragte mich, wie ich geschlafen habe und ich erzählte ihm von meinen Fingerspielen und da sagte er. „Ich sehe schon. Sie gehören nicht hierher. Ich lasse Sie jetzt mal auf eine Station bringen.“

Das freute mich. Endlich weg aus der Umklammerung der beängstigenden Geräusche. Leider dauerte es dann noch gefühlte hundert Stunden, bis mein Bett durch lange Gänge in einen Aufzug geschoben wurde. Ich sah nach wie vor alles verschwommen. Die Aufzugtüren öffneten sich, ein Rollstuhl mit einem blonden jungen hübschen Mädchen wollte hinein.

„Hallo!“, lächelte mich das Mädchen fröhlich an, während mein Bett vorbei geschoben wurde.

Ich erwiderte den Gruß und dachte: Scheint ja gar nicht so schlimm zu sein, im Rollstuhl zu sitzen.

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