Pirouetten des Lebens

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Was eine harte Kindheit bedeutet, habe ich beim Schreiben des Buches für einen Weltstar begriffen. Wie Marika Kilus den Spagat lernte, ist mir unvergesslich.

Nachfolgend die Passage aus Pirouetten des Lebens

Im Spagat

Zuhause hatte mein Vater die Hosen an, draußen meine Mutter. Ich richtete mich danach. Im Haus folgte ich Papa, draußen Mama. Da mein Training sich draußen abspielte, unterstand ich in diesen Zeiten meiner Mutter. Wann immer sie konnte, begleitete sie mich. Oft brachte sie mich aber auch nur. Zu Frau Zeiler zum Ballettunterricht, in die Kautschukschule, zur Rollschuhbahn, und holte mich dann wieder ab.

Papa wusste nichts von diesen Aktivitäten. Sie fielen ja in den Draußen-Bereich. Ich hätte ihm gern erzählt, dass ich Rollschuh lief, obwohl ich lieber daheim geblieben wäre. Ich hätte es ihm gern verraten, damit er es verbieten würde, aber es gehörte ja nach draußen und unterstand meiner Mutter. Ich hätte meinem Vater auch gern erzählt, dass ich das Ballett nicht mochte, vor allem Frau Zeiler nicht, den „alten Drachen“, wie wir Mädchen die ehemalige Tänzerin an der Oper in Frankfurt nannten. Meine Mutter hatte sie für mich organisiert, irgendwie. Meine Mutter trieb ständig Leute auf, die mich weiterbrachten. Manchmal sogar ohne Lohn. Meine Ausbildung war teuer und wurde nicht immer mit Geld bezahlt. Frau Zeiler hatte keinen Ofen in ihrer zugigen Wohnung, und es war bitterkalt in den ersten Wintern nach Kriegsende. Im Wohnzimmer meiner Eltern im Westend stand ein großer grüner Kachelofen. Frau Zeiler war dankbar, wenn sie sich ein bisschen aufwärmen durfte, während sie mir Unterricht erteilte, heimlich. Papa war beim Arbeiten.

Vielleicht wusste mein Vater, was meine Mutter mit mir vorhatte und wollte es verhindern? Vielleicht hatte er auch nur Angst, die Gene meiner Mutter würden durchschlagen, denn sie war eine miserable Tänzerin, und das schmerzte meinen Vater, der sich mit meiner Mutter im Arm beim Tanzen fühlte, als würde er „einen Baumstamm vor sich her schieben“. Oder er wollte mir die Tortur ersparen? Ich hätte sie mir auch gern erspart, doch ich wurde nicht gefragt. Ich kannte auch keine Alternative. Ich machte, was von mir erwartet wurde – und manchmal ein paar Zentimeter mehr. Frau Zeiler trainierte uns kleine Mädchen nicht nur mit dem Rohrstock, sondern setzte ihren ganzen Körper ein. An diesem Frühlingsnachmittag fand der Unterricht nicht bei uns zu Hause statt, sondern in einer weitläufigen Wohnung mit Parkettböden. Da konnte man schön tanzen. Doch heute sollte ich nicht tanzen. Heute sollte ich den Spagat lernen. Deshalb gab mich meine Mutter bei Frau Zeiler ab.

„Wenn Sie wiederkommen, Frau Kilius”, sicherte Frau Zeiler meiner Mutter zu, „kann sie ihn.”

„Gut”, nickte meine Mutter.

Nach dem Aufwärmen wies Frau Zeiler mich an, mich so gegrätscht wie nur möglich auf den Boden zu setzen. Bis zum vollendeten Spagat fehlten noch einige Zentimeter. Hilfsbereit zog Frau Zeiler ihre Schuhe aus und stieg, an meinen Füßen beginnend, langsam höher, über die Waden, die Knie, bis sie schließlich mit ihrem ganzen Gewicht auf meinen Oberschenkeln stand. Tränen liefen mir übers Gesicht. Frau Zeiler ließ nicht nach. Gütig bis zum Grund zeigte sie mir den Spagat. Ich habe ihn nie wieder vergessen.

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